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Blick in den Abgrund

Eine Komposition männlicher Gewalt! Oder: Warum sich die Waltraud nicht in den Wald traut… – Drei Autor*innen fangen in „Du Herbert“ die Realität männlicher Gewalt so erschreckend ein, dass man nicht weiterlesen möchte. – Sonntag ist Büchertag

Rezensiert von peps perdu (kritisch-lesen.de)

„Du Herbert – Einblick in die Grausamkeit“

„Du Herbert. Einblick in die Grausamkeit.“ von Lydia Haider / Judith Goetz / Marina Weitgasser (Haymon Verlag)

Grundlage dieses Buches sind die von Marina Weitgasser im Jahr 2020 gesammelten Screenshots der Startseite des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ORF.at, die über Gewalthandlungen durch Männer vermeintlich neutral berichten. Diese werden durch die Politikwissenschaftlerin Judith Goetz in den gesellschaftlichen Kontext eingeordnet. Begleitet wird dies durch einen endlosen fiktiven Monolog eines Mannes, der Gewalt rechtfertigt und legitimiert.

Den Autor*innen geht es dabei weniger um die individuellen Vorfälle, sondern darum, „die hohe Frequenz, Brutalität und Systematik, mit der die Taten vollzogen werden, aufzuzeigen“ (S. 5). Dies gelingt ihnen in erschreckender Weise. In der Gesamtkomposition ergibt das über 180 Seiten Abgründe des Patriarchats, in welcher Gewalt- und Machtausübung an der Tagesordnung sind. Männliche Gewalt als Normalität hat dabei auch die dominante Kontrollfunktion, Normierung herzustellen und Menschen auf ihren (gesellschaftlichen) Platz zu verweisen. Jede einzelne Seite dieses Buches ist eine Qual, zeigt es doch die Grenzenlosigkeit männlicher Gewalt in all ihren Facetten auf. Von Januar bis Dezember, ob auf der Skipiste, im Supermarkt, im Auto oder Privatwohnungen, ob Frauen, Männer oder Kinder betroffen sind, Väter oder Mütter, Partnerinnen oder Fremde. Egal ob allein, in der Gruppe oder mit weiblicher Unterstützung – Männer üben Gewalt mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aus, von der Faust über Messer, Bomben, Sturmgewehre, Autos, Gartengeräten, Toaster oder Fondue-Spießen. Diese zeigt sich als Beleidigungen, Raub, sexualisierte Gewalt, Femi(ni)zide und Terroranschläge.

Sprachliche Verharmlosung als Normalität

Unerträglich sind nicht nur die beschriebenen Handlungen, sondern auch die Berichterstattung und die ergänzenden Informationen zu einzelnen Gerichtsurteilen, die den Beweggründen der Täter stets mehr Raum geben als der Empathie gegenüber den Opfern. Auf ORF.at wird gerade bei familiären Gewalttaten von „Streits“ gesprochen, was den Opfern zumindest eine Mitschuld an dem gibt, was ihnen passiert ist. Dabei geht es hier nicht allein um die Verharmlosung der Taten in Bezug auf Sprache, sondern um ein strukturelles Problem in der Auseinandersetzung mit Gewalt: Die Beweggründe, die zu Gewalt führen, werden nicht bei der Gewalt ausübenden Person selbst, sondern im Außen gesucht: Die Frau hat widersprochen, das Kind war zu laut, die Maskenpflicht zu einschränkend – diese vermeintlichen Erklärungen zeigen erneut, wie Gewalt zur Durchsetzung von Kontrolle eingesetzt wird.

Exzellent ist dabei die Einordnung durch Judith Goetz. In ihren erklärenden Fußnoten erläutert sie, wie sowohl die Berichterstattung als auch die Taten in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind und wie sich darin rassistische, antisemitische, queer- und obdachlosenfeindliche und verschwörungsideologische Machtverhältnisse zeigen. Sie führt immer wieder kritisch an, wie oft die Nationalität von Tätern benannt wird, wenn sie nicht österreichisch ist, aber wie selten ein politischer Hintergrund vermutet wird, wenn Gewaltopfer migrantisch sind. In den Fußnoten lässt sich auch die Frustration von Goetz herauslesen, dass immer wieder durch die Form der Berichterstattung und eine vermeintliche „Neutralität“ Gewalttaten bagatellisiert werden oder gerade in Beziehungstaten Frauen eine Mitschuld an der Gewalt gegeben wird.

Die Verschriftlichung als Qual

Die Unerträglichkeit der Vorfälle und Berichterstattung wird mit dem Monolog des Ich-Erzählers von Lydia Haider literarisch auf die Spitze getrieben. In aneinandergereihten Wortfolgen ohne Satzenden und Pausen werden die Vorfälle zu Erklärungen. Die Selbstverständlichkeit, Macht über andere auszuüben, das Überlegenheitsgefühl und der Kontrollwahn zeigen sich so eindringlich, dass es Ekel hervorruft, diese Sätze zu lesen. Wenn davon auszugehen ist, dass Literatur Menschen berühren soll, dann wird genau dies durch dieses Buch erreicht. Die grausame Verkörperung des Patriarchats im Ich-Erzähler zeigt sich auch in der Kontinuität der Gewalt, mit der das Buch endet: „mein lieber Schwan, hast du in diesem Jahr echt nichts gelernt […] dass du das bist, was geändert werden muss, denn mich Herbert änderst du nicht oh nein nicht in tausend Jahren“ (S. 181).

Dieses Buch ist schmerzhaft zu lesen und jede Seite eine Qual. Und doch ist es genau aus diesem Grund so wichtig, weil es Männlichkeit in seiner gewalttätigen Zuspitzung nicht nur benennt, sondern analysiert und kontextualisiert. Größter Respekt an die Autor*innen, die sich in diese Abgründe begeben haben.

Lydia Haider / Judith Goetz / Marina Weitgasser 2023:
Du Herbert. Einblick in die Grausamkeit.
Haymon Verlag, Innsbruck.
ISBN: 978-3-7099-8146-7.
184 Seiten. 24,90 Euro.

Leseprobe


Dieser Beitrag wurde am 11.7.2023 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken

Titelbild: Das SCHAUSPIELHAUS WIEN setzt mit „DU HERBERT“ ein Zeichen gegen männliche Gewalt – demonstrativ am HELDENPLATZ. (Quelle: ots.at)

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