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Die Wahlen in Argentinien und der Aufstieg der neuen Rechten

Wichtig ist, dass die Diskussionen über die politische Zukunft des Landes demokratisch geführt werden, meint Politikwissenschaftlerin Lara Goyburu.

Von Jules Gießler (NPLA)

Lara Goyburu ist Politologin und Dozentin an der Universität Buenos Aires, wo sie vorwiegend zu den Themen Governance, Unternehmensverantwortung, Partizipative strategische Planung und Zwischenstaatliche Beziehungen in Argentinien forscht. Mit dem Npla hat sie über die Wahlen und über das Auftauchen einer neuen rechten Partei in Argentinien gesprochen. Das Interview wurde einen Tag vor der ersten Wahlrunde aufgezeichnet.

Npla: Wie sehen Sie die politische Situation in Argentinien im Vorfeld der Wahlen am Sonntag?

Lara Goyburu: Was wir erleben und was auf der Straße wahrgenommen wird, ist eine große Unruhe. Wahrscheinlich gab es zuletzt 2003 in der Gesellschaft und in der politischen und sozialen Führung eine solche Angst vor dem Ausgang der Wahlen, nach der Krise von 2001. Der Unterschied zu 2003 besteht vielleicht darin, dass wir nun eine Vorwahl hatten, und die mit einem überraschenden Ergebnis. In der Welt der Politik ist es wiederum nichts Neues, dass Umfragen keine verlässlichen Prognosen für den Ausgang einer Wahl liefern. Aber es gab nun mehrere Neuheiten im politische System Argeniniens: Von 2011 bis heute war die politische Landschaft mit zwei großen Koalitionen stark polarisiert. Nun haben wir eine Drittelung: Die beiden großen Koalitionen Juntos por el Cambio, der pro- oder anti-peronistische Radikalismus, und Unión por la Patria oder Frente de Todo, der Peronismus, hatten bisher 90 Prozent der Stimmen auf sich vereint – nun bekamen sie eine massive Antwort von rechts. Der Aufstieg dieser neue Rechten lässt sich derzeit überall auf der Welt beobachten. Hier ist es das Parteienbündnis Libertad Avanza mit Javier Milei an der Spitze, der fast 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinte. Das Entstehen dieser dritten Kraft ist in Argentinien eine Entwicklung der letzten 10, 15 Jahre. Und die Situation ist vor allem deshalb neu, weil mit Libertad Avanza eine dritte Kraft in den Wettbewerb eintritt, die den Grundkonsens der 1983 wiedergewonnenen Demokratie in Frage stellt. Wir feiern vierzig Jahre Demokratie, und Libertad Avanza stellt diesen Grundkonsens in Frage. Den Grundkonsens über die Menschenrechte, den Grundkonsens über die in den letzten 20 Jahren erworbenen Rechte der Minderheiten. Der Diskurs dieser dritten Kraft stellt den Grundkonsensen der Demokratie in Frage, und das ist neu.

Npla: Wie kam es zu dieser neuen Rechten in Argentinien?

LG: In Argentinien ist die neue Rechte zunächst erstmal so entstanden wie alle neuen globalen rechten Bewegungen. Es hat viel mit der Unzufriedenheit der Gesellschaft zu tun und mit den Antworten des demokratischen Systems auf die alltäglichen Probleme der Menschen. In einem Kontext wie dem argentinischen mit so vielen wiederkehrenden Wirtschaftskrisen und einer so hohen Inflation werden diese Probleme noch drängender. Was Javier Milei verkörpert, ist die Unzufriedenheit mit der demokratischen Antwort auf wirtschaftliche Probleme. Ein beträchtlicher Teil der jungen Menschen zieht die demokratischen Zukunftsgarantien in Zweifel. Heute sind fast 25 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung junge Menschen zwischen 16 und 30, die in den demokratischen Antworten keine Zukunftsperspektive finden, und da geht es um grundlegende Probleme wie den Wunsch nach einem angemessenen Arbeitsplatz oder einer Wohnung. Und nun gibt es da eine Figur der neuen Rechten, die diese Unzufriedenheit und Wut verkörpert, dieses Unbehagen an der Demokratie. Und dieses Unbehagen bezieht sich nicht auf die Garantie der Rechte des Einzelnen, sondern auf die Frage, wie Demokratie soziale Probleme bewältigt.

Npla: Glauben Sie, dass die Menschen für Milei stimmen, weil sie an das glauben, was er sagt, oder ist es eher ein Protest gegen die Regierung?

LG: Sowohl die qualitativen als auch die quantitativen Studien der letzten Monaten vor und nach den Vorwahlen zeigen, dass die Wähler unzufrieden und verärgert sind; sie sagen: „So weit ist es schon gekommen, so kann es nicht mehr weitergehen“. Aber nicht, weil es einen Prozentsatz der Bevölkerung gibt, der seine Vorschläge befürwortet. Es gibt keine wirkliche Verbundenheit des Wählers mit dem Vorschlag, aber es gibt eine wirkliche Verbundenheit des Wählers mit dem Ärger. Daher ist diese Abstimmung eher Ausdruck dieser Wut als Unterstützung für die Vorschläge, die diese politische Kraft unterbreitet. Es gibt eine Gesellschaft, die es satt hat, systematisch alle zehn Jahre durch Wirtschaftskrisen zu gehen und nicht in der Lage zu sein, für die Zukunft zu planen. Das war die Antwort, die der Peronismus gab. Der Peronismus ermöglichte es einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung, sich eine Zukunft auszumalen, unabhängig davon, ob sie sich erfüllte oder nicht. Aber es gab ein Bestreben, sich eine Vorstellung von der die Zukunft zu machen. Nun, das ist etwas, das abgeschnitten wurde, und wir werden sehen müssen, ob es gelingt, das wiederherzustellen oder nicht.

Npla: Viele Menschen, die bereits Javier Milei unterstützen, sind mit dem Peronismus aufgewachsen. Wie sehen Sie diese Verbindung zwischen Peronismus und Libertad Avanza?

LG: Selbst einige Libertad-Avanza-Vertreter verteidigen einen der wichtigsten Politiker der letzten 40 Jahre der argentinischen Demokratie, Carlos Menem. Menem war ein peronistischer Präsident. Ich denke, es hat damit zu tun, dass die argentinische Geschichte seit 1945 um einen gemeinsamen Faktor herum strukturiert ist, nämlich die Position für oder gegen eine Volksbewegung, die in jeder Periode des Landes die Forderungen und Bedürfnisse der argentinischen Mittelschicht verkörpert. Und zwar nicht die Mittelschicht im rein wirtschaftlichen Sinne, sondern das, was man die aufstrebende Mittelschicht nennt. Wofür der Peronismus seinerzeit einstand, war das Streben nach bestimmten Standards, auch hinsichtlich des sozialen Zusammenlebens, ein sicheres Zuhause, Bildung, Arbeit, Gesundheit unter normalen und friedlichen Bedingungen. Das ist es, was der erste Peronismus versprach, womit er gewachsen ist und was er im Laufe der Jahre verkörpert hat. Er besaß die Flexibilität, sich in jeder politischen Etappe an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten. Vielleicht hat der Pan-Peronismus in den letzten zehn Jahren diesen Bezug zu den Bedürfnissen der Menschen verloren. Er begann über Themen zu diskutieren, die nichts mit dem täglichen Leben der Menschen zu tun hatten, über den Obersten Gerichtshof, die Justiz, über Dinge, die weit weg vom Alltag der Menschen waren. Und Libertad Avanza ist der Weckruf für einen Peronismus, der zu seinen traditionellen Wurzeln zurückfinden muss, d.h. gegen Korruption vorgehen und die täglichen Bedürfnisse der Mittelschicht in die Politik einbeziehen.

Npla: Der Überraschungskandidat Javier Milei hat auch wegen seiner extremen Vorstellungen von der Privatisierung vieler Teile des Landes, der Dollarisierung und dem drastischen Abbau staatlicher Einrichtungen viele Diskussionen angefacht.

LG: 90 Prozent der Vorschläge reichen bis an die institutionellen Grenzen heran. Es ist die Rede von der Überarbeitung oder auch Streichung von Gesetzen wie zum Beispiel das Gesetz zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch, das in Folge eines Plebiszits eingeführt wurde. Aber die Verfassung ist da ganz klar: Über strafrechtliche Fragen kann man nicht abstimmen, das wäre also nicht möglich. Was ist mit der Dollarisierung des Landes? Nun, die nationale Verfassung spricht vom Schutz der nationalen Währung, also wäre auch das nicht möglich. Dasselbe gilt für die Abschaffung der föderalen Beteiligung, eines Mechanismus zur Aufteilung der Ressourcen zwischen Nationen und Provinzen, der ebenfalls in der Verfassung verankert ist. Mit anderen Worten, dies sind alles Vorschläge, die nur im Rahmen einer Verfassungsreform möglich wären. Und eine Verfassungsreform müsste den Nationalkongress passieren. Was ebenfalls für die Regierungsfähigkeit nach dem 10. Dezember 2023 sehr wichtig ist, hat damit zu tun, wie sich die Abgeordnetenkammer und die Senatskammer zusammensetzen werden, welchen Prozentsatz an Sitzen jeder Block haben wird und welche Möglichkeiten sie haben werden, die vorgeschlagenen institutionellen Antworten durch den Nationalkongress voranzutreiben. Das müssen wir auch berücksichtigen, denn 30 Prozent der Stimmen bedeuten einen bestimmten Prozentsatz an Sitzen, und das bedeutet Blöcke, die gegen bestimmte Gesetze ihr Veto einlegen und verhindern können, dass bestimmte Gesetze verabschiedet werden. In einem Präsidialsystem wie dem argentinischen ist es also nicht nur wichtig, wer Präsident ist, sondern auch, wer die legislative Macht hat.

Npla: Was braucht Argentinien aus Ihrer Sicht in politischer Hinsicht?

LG: Politisch gesehen braucht Argentinien eine wirtschaftliche Lösung für die Inflation. Um in politischer Hinsicht Ruhe zu finden, muss der Kandidat, der die Wahl gewinnt und am 10. Dezember sein Amt antritt, eine Antwort auf die Wirtschaftskrise geben, insbesondere auf die Inflationsspirale, in der wir uns wieder einmal befinden. Die politische Antwort lautet heute wirtschaftliche Stabilisierung. Die Frage ist, wer die Kosten für diese wirtschaftliche Stabilisierung tragen wird. Keine wirtschaftliche Stabilisierung ist kostenlos. Es gibt immer einen Teil der Bevölkerung, der für diese Kosten aufkommt. Die drei Kandidaten schlagen unterschiedliche Optionen vor. Es gibt die Möglichkeit, dass die Kosten von den wohlhabendsten Sektoren getragen werden, die von dieser Krise am meisten profitiert haben. Und es gibt weitere politische Optionen dieser drei Kandidaten, die vorschlagen, dass die Anpassung den Arbeitssektor am härtesten treffen sollte.

Npla: Gibt es etwas Positives, das Sie in der schwierigen Situation Argentiniens sehen?

LG: Ja, ich denke, das Positive ist, dass die Wahlbeteiligung einschließlich der Beteiligung an den Vorwahlen über 70 Prozent betrug. Im Vergleich zum Rest der Welt ist dies immer noch sehr hoch. Selbst die politischen Kräfte, die den Grundkonsens von 1983 in Frage stellen, tun dies durch die Teilnahme an den Wahlen. Ich denke, dass wir in Argentinien immer noch von Demokratie sprechen können, zumindest in dem Sinne, dass diejenigen, die über die demokratischen Grundlagen der Gesellschaft diskutieren, dies mit den Mitteln der Demokratie tun, und das bedeutet, dass es einen Grundkonsens darüber gibt, wie Entscheidungen in einer Gesellschaft friedlich getroffen werden. Wir wissen nicht, was im nächsten Jahr geschehen wird, aber wir wissen, dass die Diskussion über die Rolle des Staates und die Frage, wohin das Land gehen, wer begünstigt werden und wer die Kosten tragen soll, im Rahmen der demokratischen Institutionen geführt wird.


Dieser Beitrag erschien am 28.10.2023 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. 

Titelbild: Die Politikwissenschaftlerin Laura Goyburu. Foto: Jules Gießler (NPLA)

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