Wessen Wahlfreiheit? Zeit für einen Rechtsanspruch!
Was bedeutet eigentlich „Wahlfreiheit“? In der politischen Debatte ist der Begriff heiß umkämpft. Von konservativer Seite wird er immer wieder als Antipol zum Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung dargestellt. Befürchtet wird, dass dieser – in den Worten der Frauenministerin Raab – „Lebensmodelle vorgebe“ oder laut einem oberösterreichischen Klubobmann einen „direkten Weg in die Zwangsarbeit junger Mütter“ darstelle. Es ist an der Zeit, mit dem sozialromantischen Märchen einer konservativ geframten Wahlfreiheit aufzuräumen und stattdessen zu diskutieren, warum eine echte Wahlfreiheit nur durch einen Rechtsanspruch in der institutionellen Kinderbetreuung tatsächlich möglich ist.
Von Viktoria Reisinger und Erika Rippatha, AK Oberösterreich (A&W-Blog)
Mit gutem Beispiel voran – aber jenseits jeglicher Lebensrealitäten
Allem voran ist klarzustellen, dass die „Wahlfreiheit“, erwerbstätig zu sein oder das Kind zu Hause zu betreuen, abhängig ist von den eigenen finanziellen Mitteln und dem Wohnort. In einem aktuellen Interview mit den „OÖN“ meint Ministerin Raab, sie selbst sei bereits nach drei Monaten wieder arbeiten gegangen, verstehe aber gut, wenn das nicht jede Mutter und jeder Vater möchte. Es ist nicht nachvollziehbar, wie von einer privilegierten Position als Ministerin, einer der Top-Verdienerinnen der Republik mit allen finanziellen und – im gut erschlossenen urbanen Raum – auch infrastrukturellen Möglichkeiten, Rückschlüsse auf den Rest der Bevölkerung gemacht werden. Die Lebensrealität der österreichischen Arbeitnehmerinnen ist, dass sie mit einem mittleren Monatseinkommen von 2.019 Euro brutto (2021, Voll- und Teilzeit ab der Geringfügigkeitsgrenze, 14-mal) auskommen müssen. Besonders zynisch ist dabei, dass sie allen Müttern unterstellt, sie wollten gerne und freiwillig zu Hause bleiben. Mit geringen Einkommensniveaus hat mensch aufgrund des Finanzierungsdrucks eben nicht die Wahl. Wenn kein Betreuungsplatz in der Wohnsitzgemeinde zur Verfügung steht und das Einkommen begrenzt ist, kann nicht so einfach auf kostenintensive Betreuungsalternativen wie Au-pairs oder Nannys ausgewichen werden. Dass Betreuungsplätze Mangelware sind, ist nicht nur aus den zahlreichen Beratungsgesprächen, die in der AK OÖ zu den Problemen rund um die institutionelle Kinderbildung und -betreuung durchgeführt werden, bekannt.
Kein Platz in der Krabbelstube? – Pech gehabt!
Verzweifelte Eltern bzw. Mütter, die keinen Krabbelstuben- oder Kindergartenplatz für ihr Kind bekommen, wenden sich häufig an die AK: Frauen, die nach der Kinderbetreuung wieder einsteigen und ein Rückkehrgespräch mit ihrem Arbeitgeber führen wollen, oder Frauen, die einen Kinderbetreuungsplatz benötigen, um die Verfügbarkeit für eine AMS-Meldung und somit auch den Bezug von Arbeitslosengeld zu erfüllen, Beschwerden über Öffnungszeiten, die nicht zu den flexiblen Arbeitszeiten der Eltern passen und vieles mehr! Der fehlende Rechtsanspruch macht es für Eltern zu einem „Glücksspiel“, ob sie – viele Eltern melden ihr Kind schon mit der Geburt in den Einrichtungen an – einen Betreuungsplatz ergattern können oder nicht. Die Familien werden zu Bittsteller:innen, die immer auch auf den guten Willen des bzw. der Bürgermeister:in ihrer Gemeinde angewiesen sind. Wer einen Platz braucht und ihn nicht bekommt, hat halt Pech und wird auf die langen Wartelisten verwiesen! Zusätzlich kommt erschwerend hinzu, dass die Variante des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes (KBG) jene Variante ist, die von den Eltern am häufigsten gewählt wird. In der längsten Variante kann, wenn beide Elternteile das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld beziehen, dieses für längstens 426 Tage bezogen werden (bzw. 365 Tage, wenn nur ein Elternteil das KBG bezieht). Vielerorts gibt es aber für kleine Kinder ab einem Jahr keinerlei Betreuungsangebote. Wo bleibt denn da die Wahlfreiheit?
Kaum vollzeittaugliche Betreuungsplätze
In Oberösterreich haben gerade einmal 5 Prozent der Unter Dreijährigen einen vollzeittauglichen Betreuungsplatz. Wer also gerne einer Vollzeitarbeit mit Kleinkind nachgehen will, deren/dessen „Wahlfreiheit“ ist vor diesem Hintergrund besonders beschränkt, ganz besonders in Oberösterreich. Im Bundesdurchschnitt haben nur 17,6 Prozent der Unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz zur Verfügung, der sich auch mit einer Vollzeitstelle vereinbaren lässt („VIF-konform“; VIF = Vereinbarkeitsindikator für Beruf und Familie, VIF-Kriterien sind: mindestens 45 Stunden pro Woche [Montag bis Freitag] geöffnet, an mindestens 4 Tagen pro Woche mindestens 9,5 Stunden geöffnet, Angebot eines Mittagessens, maximal 5 Wochen im Jahr geschlossen) – mit großen regionalen Schwankungen. Ein Wiedereinstieg in Vollzeit ist vielerorts nahezu unmöglich, besonders in den schlecht erschlossenen ländlichen Gemeinden. Da wundert es kaum, dass in OÖ fast sechs von zehn Frauen in Teilzeit arbeiten. In Wien, wo 37,5 Prozent der Unter Dreijährigen VIF-tauglich betreut sind, ist auch die Teilzeitquote der Frauen wesentlich geringer mit 44,6 Prozent (2022).
Zum Rechtsanspruch in Deutschland
Ein Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ist keine Utopie – unser Nachbar Deutschland hat bereits seit 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten vollendeten Lebensjahr eingeführt. Kernpunkte dabei sind:
- Die Bereitstellung eines Betreuungsplatzes erfolgt in Kindertagesstätten oder auch alternativ bei Tageseltern.
- Der Betreuungsplatz muss bedarfsgerecht sein und richtet sich nicht an bestimmte Tage und Zeiten, sondern nach den individuellen Bedürfnissen der Familien.
- Wenn trotz Bedarf kein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt wird, entsteht ein Schadensersatz in der Höhe des entgangenen Einkommens!
Bis dato besteht der Rechtsanspruch auf eine Kinderbetreuung für Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren. Der aktuelle Koalitionsvertrag sieht übrigens auch einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagesbetreuungsplatz für Grundschüler:innen (entspricht der österreichischen Volksschule) vor! Ein Blick auf Deutschland könnte Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen bzw. dokumentiert, dass keine Lebensmodelle vorgegeben werden, sondern vielmehr das Gegenteil eintritt und die Chance auf Wahlfreiheit erhöht wird.
Potenziale eines Rechtsanspruchs
Ein Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz bedeutet nichts anderes, als dass Eltern ihren potenziellen Bedarf auf einen Platz auch rechtlich zugesichert haben oder gegebenenfalls entschädigt werden müssen. Dabei ist wichtig, dass Eltern den ihnen rechtlich zugesicherten Platz aber nicht in Anspruch nehmen müssen! Frauen, die nach der Geburt ihres Kindes wieder schnell in ihre Berufe einsteigen müssen/wollen – weil auch das Kinderbetreuungsgeld nicht ewig bezogen werden kann und lange berufliche Unterbrechungen auf jeden Fall Einbußen im Einkommen und später bei der Pension zur Konsequenz haben – müssen mit rechtlichen Mitteln ausgestattet werden, um sich einen Kinderbetreuungsplatz – falls notwendig – auch erstreiten zu können und nicht wie jetzt als Bittstellerinnen dazustehen!
Neben mehr finanzieller Sicherheit für Frauen ist (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit letztlich ein sicheres Mittel gegen Altersarmut – wesentlich sicherer als das von Frauenministerin Raab bevorzugte Pensionssplitting, das lediglich innerfamiliär umverteilt! Nicht zuletzt profitieren auch Kinder von einer frühen Sozialisation in den Kinderbetreuungs- und -bildungseinrichtungen in Gruppen mit Gleichaltrigen. Krabbelstuben und Kindergärten sind die ersten Bildungseinrichtungen, die unsere Kinder besuchen! Neben echter Wahlfreiheit für Mütter gäbe es vor diesem Hintergrund mehr echte Chancengleichheit für alle Kinder, die garantiert, dass auch jene, die bei der Lotterie der Geburt nicht das goldene Los erwischt haben, im Leben die gleichen Möglichkeiten erhalten wie Kinder aus einkommensstärkeren Familien.
Frühkindliche Bildung – eine wertvolle Zukunftsinvestition
Kinderbildung gibt es nicht zum Nulltarif, das ist klar. Wir sind der Meinung, dass die Umsetzung eines Rechtsanspruches und des Ausbaus der institutionellen Kinderbildung und -betreuung auch etwas kosten darf. Die österreichischen Ausgaben für frühkindliche Bildung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), sind mit nur 0,72 Prozent (2019) im OECD-Vergleich unterdurchschnittlich gering! Nicht nur der flächendeckende Ausbau würde zu Buche schlagen, sondern auch das bereits jetzt knappe Personal müsste ordentlich aufgestockt und eine Ausbildungsoffensive gestartet werden. Dazu gehört aber auch die Attraktivierung der Berufe und die weitgehende Verbesserung der Rahmenbedingungen unserer Pädagog:innen. Damit verbunden ist auch mehr gesellschaftliche und finanzielle Wertschätzung für die Erziehung unserer Kinder. Die gewählten Entscheidungsträger:innen haben hier sehr viel Gestaltungsverantwortung, die es endlich mit Leben zu füllen gilt. Jeder hier investierte Euro zahlt sich aus und kommt mehrfach zurück: Eine Investition in „Humankapital“ in Form von (qualitativ hochwertiger) frühkindlicher Bildung birgt eine besonders nachhaltige und hohe Rendite für eine Volkswirtschaft. Zudem ist es rein volkswirtschaftlich betrachtet eine große Verschwendung, dass junge, gut ausgebildete Frauen aufgrund fehlender institutioneller Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen ihre Kinder zu Hause betreuen müssen und ihre Ideen, Kreativität und ihr Wissen, ihre Erfahrungen nicht oder nur sehr eingeschränkt in ihren Berufen einbringen können!
Was es für echte Wahlfreiheit braucht:
Ein gutes Angebot an öffentlicher Kinderbildung und -betreuung:
- Gut ausgebautes, vollzeittaugliches, flächendeckendes, kostenloses Angebot an Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen mit flexiblen Öffnungszeiten und maximal fünf Wochen Schließzeiten.
- Rechtsanspruch auf einen qualitätsvollen Betreuungsplatz ab dem ersten Geburtstag bis zum Ende der Sekundarstufe I.
- Schaffung eines bundeseinheitlichen Qualitätsrahmenplans für Krabbelstuben und Kindergärten durch einen maximalen Betreuungsschlüssel und Investitionen in die Ausbildung der Pädagog:innen.
- Nachhaltige finanzielle Sicherstellung für Kinderbetreuungseinrichtungen gekoppelt mit zielgerichteten, verpflichtenden, zeitgerechten und professionellen Bedarfserhebungen.
- Gerechte Finanzierung der Elementarpädagogik durch einen aufgabenorientierten Finanzausgleich.
Einkommensgleichheit und faire Löhne:
- Gleicher Lohn für gleich(wertig)e Arbeit.
- Finanzielle und gesellschaftliche Aufwertung von typischen „Frauenbranchen“.
- Kollektivvertraglicher Mindestlohn von 2.000 Euro brutto pro Monat.
UmFAIRteilung von bezahlter/unbezahlter Arbeit:
- Ausgewogene Verteilung der Arbeitszeit, insbesondere kürzere Vollzeit mit Ausgleich bei Lohn und Personal für beide Geschlechter.
- Reform des Kinderbetreuungsgeldes, sodass ein echter Anreiz für partnerschaftliche Aufteilung gesetzt wird.
Der Beitrag wurde am 31.08.2023 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.
Titelbild: Gabe Pierce auf Unsplash