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«Bücher sind Leben, die wir nicht führen»

Wie erging es Nina George nach dem Bestseller «Das Lavendelzimmer» bis zum neuen Roman «Das Bücherschiff des Monsieur Perdu»? Was macht das Schreiben und Lesen mit ihrem Leben und vielleicht auch mit unserem?

Interview: Urs Heinz Aerni

Buchcover
Nina George – Das Bücherschiff des Monsieur Perdu (Knaur Verlag)

Urs Heinz Aerni: Frau George, ungefähr zehn Jahre ist es her, als Ihr Roman «Das Lavendelzimmer» erschienen ist. Jetzt liegt eine Fortsetzung mit dem Buchhändler Jean Perdu vor. Was ist in der Zwischenzeit mit dieser Figur geschehen?

Nina George: Älter, schwerer, ungeduldiger, liebevoller geworden. Das Lavendelzimmer ist ein Roman, der über Trauer erzählte; und dass Trauernde in einer Zwischenzeit gefangen sind. Kein Ende – kein Anfang.

Aerni: Doch die Zeit macht was mit uns…

George: Die Zeit, in der Jean jetzt – im Roman vier Jahre, in «unserer» Zeitrechnung allerdings zehn auf sich schaut, ist von Anfangslust geprägt. Er ist noch nicht fertig, er hat sich erholt, er liebt, er wird geliebt. Aber da ist dennoch die eine Frage…

Aerni: Die da wäre?

George: Wie möchte ich außerdem leben? Neben der Hommage an Bücher ist für mich das Bücherschiff ganz im Hintergrund auch die Erzählung von zwei Menschen, die miteinander leben wollen, aber feststellen, dass es neben dem Wir auch ein Ich gibt. Ich glaube, das ist die größte Herausforderung der Liebe und ihrer Geschichten davon: wie sich gegenseitig Raum lassen für das Eigene. Perdu baut sein Leben weiter. Und weil das in dem Bücherschiff auch noch nicht fertig ist, tja. Muss ich wohl einen dritten Perdu schreiben.

Aerni: Und was hat die Zeit mit Ihnen gemacht?

George: Älter, schwerer, ungeduldiger, liebevoller geworden. Unglaublich viel Zeit in der Politik verbracht, auch: verbrannt. Aus Neugier, aus Wut, aus Willen, «meine» Autorinnen und Autoren zu verteidigen. Als ich Perdu schrieb, war ich eine Verlorene.

Aerni: Wie darf ich das verstehen?

George: Ich habe meinen Vater an den Tod geben müssen, und habe drei Jahre gebraucht, um mal wieder zu lachen, ohne mich grauenhaft zu fühlen. Gleichzeitig war ich Schmerzpatientin, auf einem Level, das in kein Interview über den Zauber der Bücher gehört. Heute bin ich: dankbar, dass der Schmerz nur dann und wann noch anklopft; heute bin ich: genau dieselbe Trauernde, aber nicht mehr verloren; heute bin ich: wieder am Anfang.

Aerni: Das tut uns leid und gleichzeitig wirken Sie mutmachend.

George: Ich baue mein Leben weiter, ich werde demnächst fünfzig, und finde alles daran großartig.

Aerni: Die Leserinnen und Leser werden wieder nach Frankreich entführt und Sie leben ja teilweise in der Bretagne. Was macht Frankreich als Kulisse für Ihr Schreiben speziell aus?

George: Es riecht so gut. Es liebt die Kunst und das Denken, die Sturheit, und jedem seinen Raum. Denke ich an die Bretagne, fällt mir als erstes das soziale Miteinander ein, eine Freundlichkeit, Interesse; ich mag die aggressionsfreie Art, mit der sich Menschen auf Autobahnen, in Supermärkten oder im Privaten begegnen.

Aerni: Anders als…

George: Richtig, anders als hyperangestrengte Berliner, vielleicht ist der Vergleich auch nicht ganz justiziabel.

Aerni: Da müssten wir uns noch die Mentalitäten in Zürich oder Wien zum Vergleich dazunehmen.

George: Ah, Moment, da war ein Wort, das mir nicht passt: Kulisse.

Aerni: Okay?

George: Frankreich ist nicht Kulisse; es ist eine eigene Persönlichkeit, und gleichzeitig so vertraut. Die Unmöglichkeit des Märchenhaften ist hier möglich. Was in in Deutschland ein «darum nicht!» ist, ist in Frankreich oft ein: «Alors, warum nicht?»

Aerni: «Das Bücherschiff des Monsieurs Perdu» ist eine Hommage an das Lesen, an die Welt der Bücher, die auch als Brücke für Begegnungen dienen. Woher kommt die spürbare Überzeugung, dass ein Leben ohne Bücher zwar möglich wäre aber anscheinend sinnlos?

George: Ich habe früh begonnen, zu lesen, noch vor der Schule. Es war eine Offenbarung: die Welt war ja so groß! Und alle Leute so anders! Und außerdem erfuhr ich Dinge, die die Erwachsenen mir schmählich vorenthielten … für mich ist es bis heute so, dass ich mein eigenes Ableben als sehr präsent empfinde. Das führt dazu, dass ich so gerne lebe, aber nicht alles erleben werde.

Aerni: Das Lesen als erweitertes Leben gewissermaßen?

George: Bücher sind mir die Leben, die ich alle nie führen werde.

Aerni: Während man fließend sich in andere Herzen und Welten liest, gestaltet sich das Schreiben wohl etwas anders, nehme ich an. Wie dürfen wir uns Ihre Vorgehensweise zu dieser Geschichte vorstellen?

George: Als grundsätzlich nicht empfehlenswert. Die letzten 250 Seiten habe ich rauschhaft und in chiropraktisch bedenklicher Haltung in fünf Wochen aus dem Manual geschlagen. Die ersten 150 dagegen einen Sommer zuvor, bereits 2021, als ich auf einmal eine Szene, einen Duft, ein Gefühl wahrnahm, das in Perdu aufwogte. Ich wollte das «nur mal eben» notieren, und dann packte mich Perdu am Kragen und zog mit mit sich. Es war mehr eine Entdeckungsreise als ein geplantes Werk mit Anfang, Mitte und Ende – ich wusste wirklich nicht, was los ist, aber wollte es schreibend erkunden. Ich war neugierig, wie das wohl ausging. Durch mein Ehrenamt war eine Zwangspause nötig, zum Unmut aller Figuren, die sich, wer weiß, derweil sonst wie auf dem Bücherschiff amüsierten. Ich werde es nie erfahren.

Aerni: Im Buch, das auch ein Ratgeber sein könnte für Menschen, die schreiben möchten, diesen Satz: «Die Lektorinnen und Lektoren dieser Welt waren die Co-Bildhauer, die dabei assistierten, dass aus dem Wortgestein ein David wurde und nicht nur ein Brocken Druckerschwärze.» Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit dem Lektorat?

George: Entspannt. Catherine Beck als auch Natalja Schmidt und die Verlegerin Doris Janhsen waren mir geliebte Sekundantinnen. Andererseits hat man mit meinen Manuskripten nicht mehr ganz so viel so tun wie noch vor, sagen wir, fünfzehn Jahren. Ich habe ein strenges Selbstlektorat, meine innere Überarbeiterin weiß ziemlich genau, was Mist ist. Schreiben ist die Kunst zu entscheiden, was man stehen lassen soll. Und was nicht, egal wie schön es sich anhört.

Aerni: 2015 meldete der «Spiegel», dass Ihr Roman «Das Lavendelzimmer» in der Bestsellerliste der «New York Times» landete und bezeichnete das als Ritterschlag für deutschsprachige Autorinnen und Autoren. Wie beflügelnd sind solche Erfolgsmeldungen und Auszeichnungen für das weitere kreative Schaffen?

George: Mäandernd zwischen fabelhaft und grauenhaft.

Aerni: Aha?

George: Als 2015 «The Little Paris Bookshop», also das Lavendelzimmer in der Übersetzung von Simon Pare – übrigens, eine Übersetzung, die ich auf den Knien meines Herzens feiere – erschien und seinen Bergweg auf den Listen einschlug, war in mir gar kein Platz, um so ein solitäres Groß-Ereignis zu packen. Später bemerkte ich Anflüge von höchster Selbstkritik bei jedem Satz: ist das gut genug?

Aerni: Klingt nach einer Balance zwischen Selbstzweifel und Zufriedenheit.

George: Ich denke, ich habe zehn Jahre gebraucht, um für mich zu einer Haltung jenseits von Lob und Tadel zu finden, die mir die Hoheit über meine Erzählungen zurückgibt: so zu schreiben, als ob es niemand je lesen wird. Entsprechend habe ich hier auch einige Manuskripte, von denen ich gar nicht so sicher bin, ob ich sie je offenbaren will. Zu intensiv war die Freiheit, jenseits aller öffentlichen Mechanismen von Wahrnehmung, Beurteilung, wirtschaftlicher Einordnung, einfach eine Geschichte eines Menschen so klar und nötig wie möglich zu erzählen.

Aerni: Wo schreibt es sich besser, in Berlin oder in der Bretagne, so ganz unter uns?

George: So ganz unter uns: In der Bretagne, obgleich das nicht an der Bretagne allein liegt. So ganz im Vertrauen: Ich schreibe am liebsten an einem klapprigen Gartentisch und auf einem hölzernen Klappgartenstuhl, und das ganze im Keller mit Aussicht auf die Hecke des Nachbarn und die Werkstattecke. Diese absolut nicht-schöne Umgebung hilft mir enorm, in mein inneres Zimmer zu gehen. Und dort die Geschichte anfangen, zu sehen, und dann, schnell», bevor der Film sich wieder verflüchtigt, mitzuschreiben. Gebt mir eine winzige Ecke in einem blassen Raum, und ich erschreibe mir die ganze Welt.

Aerni: Sie engagieren sich politisch rund um die Bücherwelt, und beschäftigen sich mit Urheberrecht und setzen sich auch ein für die Rechte von Literaturschaffenden. Wo sehen Sie aktuell die größten Baustellen für die Zukunft der Literatur?

George: Wie viele Seiten haben wir doch gleich zur Verfügung? – gut, ich setze mal den EWC Präsidentinnenhut auf und ziehe streng eine Augenbraue hoch…

Aerni: Bin gespannt.

Goerge: Die «Zukunft der Literatur» ist nicht dasselbe wie «die Zukunft der Autorinnen, der Freiheit oder Demokratie.»

Aerni: Wo Sie recht haben, haben Sie recht.

George: Es gibt drei Großbaustellen: die Abkopplung von «Buch» und «Schöpfer». Gerade in der Politik wird vom «Buchsektor» gesprochen, von «Leseförderung», von «Literatur» oder «Zugang zu Wissen» – aber, dass es jeweils Individuen sind, die, in Vorleistung, und ohne jemals für ihre Arbeitszeit, Qualität, Seitenlänge, Erfahrung oder Recherchekosten bezahlt zu werden, hinter jedem Buch, jedem Wissen, stecken, als die wichtigste Quelle des Buchsektors, wird traditionell ignoriert.

Aerni: Haben Sie Beispiele?

George: Nämlich immer dann, wenn es um so etwas Schnödes geht wie Vertragsgestaltung, elende Bedingungen bei Distribution über Monopole und all die schicken Onlineportale, oder wenn es darum geht, die Bildungs- und Kulturmandate des Staates zu erfüllen: Das darf ja auf keinen Fall was kosten, und schon gar keine nennenswerte Vergütung für Autorinnen. Es gab nicht eine durchsetzungsfähige Legislative in 20 Jahren, die Autoren schützt, stärkt oder die Lage verbessert; selbst die Urheberrechtsrichtlinie wird in den EU27-Ländern uninspiriert umgesetzt. Zweitens: KI. Es wird die Bedeutung, die Wahrnehmung, die Empfehlung, die Sichtbarkeit von Büchern und ihren Schöpfern maßgeblich beeinflussen und die bedeutendste Umwälzung der Zivilisation, der Kultur bedeuten. Es muss deutlich werden, dass jede KI auf den Gräbern menschlicher Schöpfer tanzt – sie hat von uns gelernt, gratis. Drittens: wir brauchen mehr Seiten, um das alles abzuarbeiten. Aber es wäre gut, die Situation der verschiedenen Genres und selbständigen Autoren zu untersuchen, um sie entsprechend in Sozialversicherungssysteme einzugliedern.

Aerni: Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Bücherwand oder Bibliothek sortiert?

George: Mein Mann und ich haben zusammen etwa 5.000 Bücher, je 2.000 in den beiden Arbeitszimmern, und etwa 1.000 im Schlafzimmer. Ich erinnere mich noch an das Entsetzen der Umzugsmenschen ….

Aerni: Kann ich mir lebhaft vorstellen.

George: Meine Bibliothek spiegelt meinen Lebenslauf wider, ein mehrfach geschichtetes Gebirge – in den eher unerreichbaren Ecken die Bücher aus der Jugendzeit und junger Erwachsener-Periode der 80er Jahre – als mich Roth völlig irritierte und King umwarf – , übergehend zu den Sachbuch-Korallenriffen aus den 90er und frühen 2000er Jahren, wo sich viel Politik, Biografien und Feminismus bündelt, aber auch Spezialwissen. Ich wollte wissen, und es war die prä-Internetära, also kaufte ich zu allem, was mich anzog, ein halbes Dutzend Werke. Astrologie, DDR-Geschichte, Neurobiologie, Eros in 1600 Jahren Weltkultur, Hollywoods Geschichte, Landkarten des Orients…. zusammen mit kompletten Sätzen der besten Kriminalliteratur aus 2002 bis 2013. Die letzten zehn Jahre wachsen als ungeordnete Bücherflächen, Bäumchen, Hügel überall herum, viel Belletristik von Frauen, und noch lieber aus fernen Ländern, anderen Lebensräumen, Kulturen, Sprachwelten und Werteheimaten.

Aerni: Ups, da tun sich in der Tat neue Welten auf….

Goerge: Es findet sich garantiert kein Mensch in meiner Bibliothek zurecht, aber ich weiß genau, in welchem Alter ich was tat und liebte und ersehnte und fürchtete, wenn ich ein Buch aus den Bäumen und Inseln ziehe. Ich sehe auf meine Bibliothek, und erinnere mich, wer ich mal war, und warum ich heute bin.

Aerni: Ich stelle bei mir fest, dass ich beim Zugfahren immer mehr durch die Landschaft vom Lesen ablenken lasse, vielleicht eine Alterserscheinung. Wie sieht Ihre Lesedisziplin aus? Oder gibt es Rituale fürs Lesen und Schreiben?

George: Ich lese schnell, viel, und möglichst ständig. Auf dem Handy, dem Computer, auf dem Papier, im Bett, beim Schreiben, vor dem Schreiben, nach dem Schreiben; auf Reisen, mitunter auf dem WC, und am allerliebsten, wenn ich allein in mir völlig fremden Städten «meine» Bar gefunden habe, in der ich die internationalen Konferenzen mit einem Buch, gerne einem Gespräch mit anderen Alleinreisenden, überwintere. Dann schleppe ich die Lektüren wieder nach Hause, füge sie in das Atlasgebirge ein und werde noch Jahre später wissen: Ach, Sofia… Dublin … Genf… und, oh je, diese Übernachtung da am Flughafen, aber eine tolle Geschichte, gut, dass ich die dabeihatte.

Aerni: Wenn ich ein Bild malte mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen, wie müsste dieses aussehen?

George: Aufschauend, für einen Moment die Welt nicht sehend, durch die Gegenwart hindurchschauend auf etwas Inneres. Einvernehmlichkeit mit sich. Frieden.


Über Nina George:
Die mehrfach ausgezeichnete internationale Bestsellerautorin Nina George, geboren 1973 in Bielefeld, schreibt seit 1992 Romane, Sachbücher, Essays, Reportagen, Kurzgeschichten, Blogs und Kolumnen. Ihr Roman «Das Lavendelzimmer» wurde in 36 Sprachen übersetzt und eroberte weltweit die Charts, so etwa die New York Times-Bestsellerliste in den USA. Mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Jens J. Kramer, schreibt Nina George als Jean Bagnol Provencethriller. Sie lebt in Berlin und in der Bretagne. Seit Juni 2019 ist Nina George Präsidentin des European Writers‘ Council, dem Dachverband von 40 europäischen Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverbänden. Die Website der Autorin: www.ninageorge.de

Der aktuelle Roman: «Das Bücherschiff des Monsieur Perdu», 2023, Knaur Verlag, 384 Seiten, ISBN 978-3-426-65407-1

Dieses Interview erschien erstmals im Magazin „Lesen“, herausgegeben von Orell Füssli Thalia Schweiz


Titelbild: Johannes Plenio auf Unsplash

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