Wo die Mobilitätsarmut zu Hause ist
Mobilität ist eine Grundvoraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können – sei es um zur Arbeit, in die Schule, zum nächsten Geschäft oder zu Freizeitaktivitäten zu gelangen. Während es schon längere Zeit ein hohes Bewusstsein über Energiearmut gibt, ist die Problematik der Mobilitätsarmut bislang eher unterbelichtet. Hohe Inflation und die Notwendigkeit einer umfassenden Mobilitätswende führen aber zwangsläufig zur Frage, wer wie mobil sein kann und welche Hürden sich dabei ergeben.
Von Heinz Högelsberger (A&W-Blog)
Versorgungskahlschlag in den Regionen
Die jahrzehntelang vorherrschende autozentrierte Verkehrs- und Raumordnungspolitik hat vielerorts zu einem regelrechten Kahlschlag bei der Bereitstellung von öffentlichem Verkehr als Teil der Daseinsvorsorge geführt – mit weitreichenden Auswirkungen. Regionalbahnen stellten in vielen ländlichen Gegenden das Rückgrat der Mobilität dar. Auf mehr als 1.200 Kilometern wurde innerhalb der letzten vier Jahrzehnte allerdings der Personenverkehr eingestellt; 800 km davon allein in Niederösterreich. Das zeigt ein Vergleich des Eisenbahn-Kursbuchs aus dem Jahr 1980 mit der Gegenwart. Zugleich ließ der Bau von Einkaufszentren zahlreiche Ortskerne veröden. In knapp 30 Prozent der österreichischen Gemeinden gibt es kein Lebensmittelgeschäft mehr. Bereits 1999 mussten mehr als 300 Gemeinden ohne Nahversorgung auskommen. Diese Zahl hat sich inzwischen mehr als verdoppelt. Sie könnte demnächst auf 1.000 ansteigen, womit fast jede zweite Gemeinde unversorgt wäre. Gleichzeitig wurden Hunderte Postämter geschlossen. Hinzu kommt das „Wirtshaussterben“: Allein in den letzten 20 Jahren sperrten in Niederösterreich ein Drittel aller Gasthäuser zu. Damit gehen auch Treffpunkte für das Gemeindeleben verloren.
All das führt dazu, dass die Menschen in Österreich längere Wege zurücklegen müssen und – vermeintlich oder tatsächlich – vermehrt auf das Auto angewiesen sind. Denn rund ein Fünftel der Bevölkerung lebt in Regionen ohne Öffi-Anbindung. So sind mehr als 40 Gemeinden buchstäblich abgehängt. Flächendeckende Öffis sind nämlich nur in Vorarlberg und Wien zu finden.
Was ist Mobilitätsarmut?
Bislang gibt es keine allgemein gültige Definition von Mobilitätsarmut. Generell versteht man darunter Einflussfaktoren, die die Anfahrt zu Reisezielen erschweren; sei es bezüglich Leistbarkeit, Erreichbarkeit oder Barrierefreiheit. Laut ÖAMTC liegen die monatlichen Pkw-Kosten bei durchschnittlich 460 Euro. Somit ist Autofahren für den Einzelnen fünfmal so teuer wie das Klimaticket Österreich. Daher wäre ein guter öffentlicher Verkehr ein wirksames Gegenmittel gegen Mobilitätsarmut. Statistisch gesehen leben in Österreichs Städten anteilsmäßig mehr Armutsbetroffene als am Land. Allerdings ist in den Ballungsräumen die Öffi-Versorgung recht gut. In dem aktuellen Forschungsprojekt „erREICHbar“ haben das ÖIR und das Austrian Institute of Technology die Wohnorte von armen Menschen mit der Qualität der ÖV-Anbindung verschnitten. Das Ergebnis ist dramatisch: Rund fünf bis sechs Prozent der österreichischen Haushalte sind von potenzieller Mobilitätsarmut betroffen; das sind fast ein halbe Million Menschen! Sie leben mit weniger als 60 Prozent des österreichischen Medianeinkommens in Regionen ohne gute ÖV-Erschließung. Geografische Schwerpunkte sind das Wald- und das südliche Mostviertel in Niederösterreich, das Innviertel (Oberösterreich) sowie zahlreiche Seitentäler entlang des Alpenhauptkamms. Der Süden der Steiermark und des Burgenlandes sind weitere Hotspots für Mobilitätsarmut.
In der folgenden Grafik wurde für alle politischen Bezirke die Qualität des öffentlichen Verkehrs mit dem Durchschnittseinkommen in Beziehung gesetzt. Aufbauend auf den Daten der Österreichischen Raumordnungskonferenz (ÖROK) zur ÖV-Anbindung, wurde für diese Untersuchung für jeden politischen Bezirk eine Kennzahl der Qualität des öffentlichen Verkehrs ermittelt, die von 0 (keine Öffi-Anbindung) bis 7 (sehr gut) reicht (die Berechnungsart wird hier erklärt).
Man erkennt in der Abbildung bezüglich der ärmeren Bezirke eine zweigeteilte Situation: Am linken oberen Rand finden sich die Wiener Bezirke mit einem geringen Durchschnittseinkommen (Rudolfsheim-Fünfhaus, Brigittenau, Favoriten), aber einer guten ÖV-Versorgung und einem niedrigen Motorisierungsgrad. Problematisch sind hingegen jene ländlichen Bezirke mit einem jährlichen Durchschnittseinkommen unter 32.000 Euro und einer schlechten ÖV-Anbindung (violette Ellipse). Offensichtlich ist dort die Autoabhängigkeit sehr groß, was sich in einem hohen Motorisierungsgrad widerspiegelt. Ärmere Einwohner:innen in diesen Bezirken sehen sich also oft gezwungen, einen Pkw zu besitzen, den sie sich eigentlich nicht leisten können. Die Alternative dazu wäre, immobil zu sein und von vielen gesellschaftlichen Tätigkeiten abgeschnitten zu werden. Die am stärksten betroffenen Regionen sind auch hier wieder das Waldviertel, das Südburgenland und die südliche Steiermark sowie der Nordwesten Oberösterreichs. Aber auch die Bezirke Tamsweg (Salzburg), Feldkirchen und Völkermarkt (beide in Kärnten) gehören dazu.
Beispiele „armer“ Bezirke
Bezirk | Jahreseinkommen | Öffi-Qualität | Motorisierungsgrad |
Brigittenau (W) | € 25.324 | 6,58 | 276 |
Rudolfsheim-Fünfhaus (W) | € 24.425 | 6,81 | 272 |
Südoststeiermark (St) | € 25.988 | 1,04 | 714 |
Tamsweg (S) | € 26.379 | 1,48 | 635 |
Waidhofen/ Thaya (NÖ) | € 27.399 | 1,61 | 760 |
Zwettl (NÖ) | € 26.244 | 1,00 | 739 |
Feldkirchen (K) | € 26.827 | 1,32 | 668 |
Fazit:
Das Schlagwort von der Mobilitätsgarantie muss also endlich mit Leben erfüllt werden. Der öffentliche Verkehr sollte in allen politischen Bezirken auf eine Qualitätskennzahl von mehr als 2 angehoben werden. Weiters müsste das Bewusstsein geschaffen werden, dass Individualverkehr nicht zwangsläufig zum kostspieligen Autobesitz führen muss. Die passende Verkehrsinfrastruktur vorausgesetzt, könnten viele Alltagswege auch mit Fahrrädern, E-Bikes oder E-Motorrollern bewältigt werden. Sharing-Möglichkeiten und Mikro-ÖV könnten ebenfalls Teil der Lösung sein. Verkehrsflächen und finanzielle Mittel müssten anders – nämlich gerechter – neu verteilt werden. Wie so oft zeigt sich auch hier: Gelebter Klimaschutz kann eine positive soziale Komponente haben.
Titelbild: CHUTTERSNAP auf Unsplash