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Kaukasus 2008 – ein Vorspiel zum Ukrainekonflikt

Auch wenn es in unserer schnelllebigen Zeit weitgehend vergessen scheint, vor 15 Jahren, im August 2008, war die Welt mit einem Szenario konfrontiert, das sich nicht wesentlich von jenem unterschied, das uns heute in Atem hält. Die Parallelen zu heute sind auffallend – was aber auch hinsichtlich des Ausgangs des Konflikts interessant ist.

Von A.P. Pittler, Historiker und Schriftsteller

Der Zerfall der Sowjetunion und die Folgen

Die Wurzeln des seinerzeitigen Konflikts liegen dort, wo sich auch jene des Ukrainekriegs finden: in der Auflösung der UdSSR. Durch die Schaffung neuer Staaten ergaben sich zusätzliche Spannungsfelder zwischen den einzelnen Ethnien, die zuvor durch die Klammer des sowjetischen Zentralismus mühsam im Zaum gehalten worden waren. Ein halbes Jahrhundert – wie im Fall des Baltikums – bzw. 70 Jahre wie im Kaukasus hatten beträchtliche demographische Verschiebungen ergeben. So waren die Titularnationen der neuen Staaten mitunter kaum wirklich in der Mehrheit. Lettland etwa hatte bei der letzten sowjetischen Volkszählung 2,7 Millionen Einwohner, von denen nur 52 Prozent Letten waren, während es daneben auch beinahe 40 Prozent Russen (oder Weißrussen) gab. Ähnlich die Lage in Georgien. Dort lebten knapp 5,5 Millionen Menschen (2020 waren es übrigens nur noch 3,7 Millionen), die sich auf 26 Völker aufteilten. Nach der Unabhängigkeit Georgiens wanderten zahlreiche nichtgeorgische Bevölkerungsgruppen ab, darunter 300.000 Russen, 200.000 Armenier, 80.000 Griechen und über 20.000 Juden. Erst durch diesen Aderlass stieg der Anteil der Georgier an der Gesamtbevölkerung auf 83 Prozent. Während aber die Angehöriger größerer Nationen einfach in ihre „Heimatländer“ zurückkehrten, blieb jenen kleinen Völkern, die immer schon im Kaukasus beheimatet waren, eine solche Option verwehrt. Wie die Georgier, die Letten, die Ukrainer auch wollten die Osseten, die Abchasen, die Dagestanis gleichfalls ihren eigenen Staat und versagten Tiflis die Gefolgschaft.

Folge dieser Entwicklung war ein fragiles Nebeneinander zwischen der georgischen Zentralmacht einer- und einer Vielzahl an von Georgien nicht kontrollierten Gebieten wie Südossetien, Abchasien und Adscharien. Alle diese Gebilde wandten sich unisono an Moskau um Schutz und Hilfe, während Georgien beständig auf eine Gelegenheit wartete, diese Gebiete wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Solange in Tiflis der ehemalige sowjetische Außenminister Edvard Schewardnadse herrschte, gab es einen volatilen Frieden mit Moskau, da Schewardnadse, schon wegen seiner eigenen Vergangenheit, mit der Moskauer Elite durchaus auf gutem Fuß stand. Doch als er mithilfe der CIA in der sogenannten „Rosenrevolution“ weggeputscht wurde, kam an seiner Statt ein US-amerikanischer Günstling namens Michael Saakaschwili an die Macht, der zur Gänze auf hohles Pathos und plumpen Nationalismus setzte.

Die USA freilich hatten schon länger versucht, Georgien zu infiltrieren, um diesen wichtigen Brückenkopf den Russen zu entreißen. Mit Saakaschwili als Aushängeschild konnte Washington nun Nägel mit Köpfen machen. Das „Georgia Sustainment and Stability Operations Program“, im Januar 2005 gestartet, diente vordergründig dazu, georgische Truppen fit für einen Einsatz im Irak zu machen. Real aber bot es eine willkommene Gelegenheit, US-Marines und Special Forces nach Georgien einsickern zu lassen und Kontrolle über die georgische Armee zu bekommen. Moskau freilich beäugte diese Vorgänge mit wachsendem Unmut.

Die Anerkennung des Kosovo oder: zweierlei Maß

Neuen Zündstoff erhielt die kritische Lage im Kaukasus durch das einseitige Vorpreschen des Westens in der Kosovo-Frage. Obwohl die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates Russland und die VR China daran erinnerten, dass die geltende Beschlusslage der Vereinten Nationen die territoriale Integrität Serbiens vorsah, wurde der UCK-Staat von den USA und ihren Satrapen anerkannt, was einen entsprechenden Affront gegenüber Russland bedeutete. Russland sah sich zu einer entsprechenden Antwort genötigt und anerkannte nun seinerseits einseitig Südossetien und Abchasien als unabhängig an, frei nach dem alten Motto: wie Du mir, so ich Dir. Ein Schritt übrigens, den Russland bereits im Vorfeld der Anerkennung des Kosovo als unweigerliche Konsequenz angekündigt hatte. Kaum waren Südossetien und Abchasien am 21. März 2008 – wenige Tage nach der Unabhängigkeit des Kosovo – von Russland anerkannt worden, erregte sich die EU und betonte wortreich die Notwendigkeit der territorialen Integrität Georgiens – ganz wie vom US-amerikanischen Auftraggeber gewünscht. Russland wies einmal mehr darauf hin, dass es zwar Beschlüsse zur territorialen Integrität Serbiens gebe, die von der EU missachtet worden waren, dass es jedoch keine solche Beschlusslage in der Georgienfrage gab.

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Unmittelbar nach diesem diplomatischen Geplänkel begann Georgien – wohl von den USA dazu ermuntert – damit, Russland Nadelstiche zu versetzen. Der russische Luftraum wurde verletzt, georgische Truppen an die Grenze verlegt und demonstrativ Manöver abgehalten. Russland reagierte seinerseits mit der Verlegung von Truppen in den Süden, und der OSZE blieb wenig mehr übrig, als den permanenten Verstoß beider Seiten gegen das Moskauer Protokoll von 1994 zu beklagen.

Georgien weigerte sich, Südossetien und Abchasien ziehen zu lassen und etablierte mit entsprechendem Getöse „Gegenregierungen“, die das Georgien gegenüber loyale Südossetien bzw. Abchasien repräsentieren sollten. Zeitgleich wurde ein südossetischer Milizenführer von Georgiern gezielt ermordet, worauf wenig später der Chef der südossetischen Gegenregierung einem Anschlag zum Opfer fiel. Unmittelbare Reaktion darauf waren mehrtägige Granatfeuer über die Grenze hinweg, die keiner der Konfliktparteien nutzte, aber zahlreiche Tote, Verwundete und Vertriebene produzierte.

Die Scharmützel dauerten den ganzen Juli über an und begannen Anfang August 2008 endgültig zu eskalieren. Am Abend des 7. August schien Saakaschwili ein Einsehen zu haben und verkündete in den Medien einen sofortigen Waffenstillstand. Georgien werde seine Truppen zurückziehen, sofern die Russen dasselbe täten, hielt er in Radio und Fernsehen fest. Eine Finte, wie sich zeigte, denn kurz nach Mitternacht des 8. August rückte die reguläre georgische Armee auf breiter Front in Südossetien ein. Die südossetische Hauptstadt Zchinwali wurde von Georgien gezielt bombardiert, was hunderten Zivilisten das Leben kostete, und am Nachmittag vom georgischen Heer eingenommen. Am Abend des ersten Kampftages musste die südossetische Regierung eingestehen, dass nahezu der gesamte Süden ihres Staatsgebiet von Georgien besetzt war. Bemerkenswert am georgischen Vorgehen war übrigens der Umstand, dass auch die russischen Beobachter gezielt bombardiert wurden. Georgien rechtfertigte diesen Akt mit der Behauptung, die Russen hätten sich aktiv an den Kämpfen beteiligt.

Der Krieg

Damit jedenfalls provozierte Saakaschwili eine tatsächliche Beteiligung der Russen an der Auseinandersetzung. Noch am 8. August wurden russische Einheiten in Marsch gesetzt, die gegen Mitternacht tatsächlich in die Kämpfe einzugreifen begannen. Georgien geriet dadurch rasch in die Defensive und wandte sich, wie 15 Jahre später Selenski, an den Westen um Hilfe. Tatsächlich halfen die USA mit ihren Flugzeugen aus, um georgische Truppen in das Kriegsgebiet zu verlegen.

Zeitgleich begann das übliche Spiel des Westens. Einseitig wurde Russland die Schuld für die Eskalation gegeben, einzelne NATO-Staaten, allen voran Estland, Lettland, Litauen und Polen, forderten eine sofortige Aufnahme Georgiens – und interessanterweise auch der Ukraine (!) – in die NATO, während Saakaschwili im Westen um Waffen und Kriegslogistik bat. Am 9. August – der Krieg war eben erst 24 Stunden alt – wurde Russland aus der G 8 ausgeschlossen und eine Mitgliedschaft Russlands in der WTO für unmöglich erklärt. Weitere Sanktionen, so hieß es, sollten schnellstmöglich folgen.

Allerdings hatte der Westen nicht mit der eklatanten Schwäche der georgischen Armee gerechnet. Bereits am Nachmittag des 9. August hatten die Russen Zchinwali zurückerobert, am Abend desselben Tages überschritten sie die ossetisch-georgische Grenzen und hielten direkt auf Tiflis zu. Die georgische Armee wich erst zurück, löste sich dann auf und flüchtete Hals über Kopf aus den Stellungen.

Am 10. August hatten die Russen den Norden Georgiens in ihrer Kontrolle, im Verlauf des nächsten Tages stießen sie bis Gori, bekannt als die Geburtsstadt Josef Stalins, vor, wodurch Georgien faktisch in zwei Teile geteilt wurde. Die Truppen im Westen waren damit von der georgischen Hauptstadt abgeschnitten, weitere strategische wichtige Orte wie die Hafenstadt Poti konnten ebenfalls relativ widerstandslos von den Russen eingenommen werden. Unabhängige ausländische Kriegsberichterstatter sprachen davon, dass die georgischen Truppen ungeordnet und in Panik flohen. Flankiert wurden die russischen Landoperationen durch die russische Kriegsmarine, welche die georgische Küste kontrollierte, sodass der Westen Georgien auch über den Seeweg keine Hilfe mehr zukommen lassen konnte. Saakaschwili verlor die Nerven und bat am 13. August um Frieden.

Den Russland gnädig gewährte. Staatspräsident Medwedew verkündete nach insgesamt fünf Tagen militärischen Engagements ein Ende der Operation, und bereits am 15. August trafen sich eine russische und eine georgische Delegation zu Friedensverhandlungen.

Doch der Westen hielt an seiner Aggressionsstrategie fest. Erstmals verkündeten Schweden und Finnland, sich eventuell der NATO anschließen zu wollen, die NATO selbst verlegte schwere Waffen an die russischen Grenzen, und die westlich-kontrollierten Medien zeichneten einmal mehr das Bild des russischen Bären, der den ganzen Kontinent unterjochen wolle, wobei geflissentlich verschwiegen wurde, dass Georgien mit seinem Einmarsch in Südossetien den Krieg begonnen hatte.

Der „Sechs-Punkte-Plan“, auf den sich Russland und Georgien unter der Moderation Frankreichs verständigte, sah im Wesentlichen eine Reinstallierung des Status Quo Ante vor. Die Russen zogen ihre Truppen ebenso aus Südossetien zurück wie die Georgier, Südossetien blieb de facto – aber eben nicht de iure – ein eigenes Staatswesen. Dies bis zum heutigen Tag.

Die Folgen

Die Truppen zogen zwar ab, die von ihnen gelegten Minen blieben jedoch. Menschenrechtsorganisationen registrierten nahezu 400 Tote und Verletzte, die an den Folgen von explodierten Minen Leben bzw. Gesundheit einbüßten. Und hatte Human Rights Watch den Russen vorgeworfen, Streumunition (aktuell wieder in aller Munde) verwendet zu haben, gab der georgische Verteidigungsminister später kleinlaut zu, dass auch die georgische Seite Streubomben eingesetzt hatte.

Bis zum Oktober 2008 zog Russland seine letzten Truppen aus Georgien ab, kündigte jedoch unmissverständlich an, sollte die USA ein weiteres Mal versuchen, Georgien aufzurüsten, würden die russischen Einheiten augenblicklich zurückkehren.

Und tatsächlich blieb die Lage weiter volatil, zumal NATO-Schiffe regelmäßig den georgischen Hafen Batumi anliefen, offiziell, um Hilfsgüter zu liefern. Dennoch war nicht zu übersehen, dass die NATO ihre Schiffe im Schwarzen Meer massiv aufstückte, wobei dies mit dem „Schutzbedürfnis“ Rumäniens, Bulgariens und der Türkei begründet wurde. Russland ließ dieses Vorgehen nicht unbeantwortet und massierte seinerseits Kreuzer und weitere Kampfschiffe rund um den Hafen von Suchumi, einer von Georgien abtrünnigen Hafenstadt in Abchasien.

Menetekel für die Ukraine?

Das dicke Ende kam ein Jahr später. Die EU hatte einen unabhängigen Untersuchungsbericht in Auftrag gegeben, der eine überraschend deutliche Sprache sprach. Die meisten georgischen Behauptungen wurden darin widerlegt, was zu einem dramatischen Imageverlust Saakaschwilis führte. „Der Spiegel“ verkündete, der georgische Staatspräsident stehe öffentlich als „Lügner und Brandstifter“ da. Auch der Umstand, dass Georgien eindeutig der Aggressor gewesen war, ließ sich von Seiten der NATO nicht mehr verheimlichen, was aber den damaligen NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen nicht anfocht: Georgien habe weiterhin eine realistische Beitrittsperspektive, tönte der Däne. Dennoch war das diplomatische Desaster Saakaschwilis nicht mehr zu übersehen. Der Bericht spricht von Kampfhandlungen „im großen Maßstab“ in der Nacht vom 7. zum 8. August durch georgische Streitkräfte, was jedoch nur die Kulmination eines längeren Zeitraums von zunehmenden Spannungen, Provokationen und Zwischenfällen war. (“The shelling of Tskhinvali by the Georgian armed forces during the night of 7 to 8. August 2008 marked the beginning of the large-scale armed conflict in Georgia, yet it was only the culminating point of a long period of increasing tensions, provocations and incidents.”) Die Kommission war nicht in der Lage, die georgische Darstellung eines russischen Einmarsches nach Südossetien vor dem 8. August 2008 zu bestätigen (“The Mission is not in a position to consider as sufficiently substantiated the georgian claims”). Der Angriff Georgiens auf Südossetien und dort stationierte russische Friedenstruppen wurde als Verstoß gegen internationales Recht eingestuft. Eine anfängliche russische Intervention zur Verteidigung der Friedenstruppen auf südossetischem Gebiet sei durch das Völkerrecht gedeckt gewesen. Andererseits wurde der Einmarsch russischer Truppen in georgisches Gebiet außerhalb Südossetiens als durch kein internationales Recht gedeckt beurteilt und als sehr unverhältnismäßig bezeichnet.

Auch andere ursprüngliche Annahmen bewahrheiteten sich nicht. Waren internationale Beobachter zunächst davon ausgegangen, dass Russlands Wirtschaft massiv unter den westlichen Sanktionen leiden würde, so zeigte sich rasch, dass diese nur marginal beeinflusst wurde, zumal sie rasch Wirtschaftspartner im außereuropäischen Raum fand. Zudem lohnte sich das russische Engagement im Abchasien, wo man nennenswert von der Wiederbelebung des Schwarzmeer-Tourismus profitierte. Ebensowenig erfüllte sich die Hoffnung, Russland würde mit der Anerkennung der beiden abtrünnigen Republiken allein bleiben. Es zeigte sich, dass eben nicht der gesamte Planet nach der Pfeife der Amerikaner tanzt. Und die USA mussten erkennen, dass Georgien, zumal dessen Präsident, wahrscheinlich nicht einen Weltkrieg wert war. Der Westen ruderte zurück, die Lage im Kaukasus blieb ungelöst. Wie so viele andere Konflikte auch, die jahrelang schwelten. Einer davon war jener um den Osten der Ukraine, der uns nun heutzutage in Atem hält.


Titelbild: Дмитрий Стешин, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

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