Wissenschaft mahnt: EU-Mercosur-Abkommen ökologisch und sozial nicht nachhaltig
Vom EU-Lateinamerika-Gipfel, der am 17.und 18. Juli in Brüssel stattfindet, erhofft sich die EU-Kommission frischen Wind für die Verhandlungen um das EU-Mercosur-Abkommen. Im Vorfeld des Gipfels, an dem hochkarätige Politiker:innen wie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder der brasilianische Staatschef Lula da Silva teilnehmen werden, kritisieren renommierte Wissenschafter:innen von Diskurs. Das Wissenschaftsnetz das Abkommen, weil es Umwelt- und Sozialstandards unterlaufen und die Ziele der EU zu einem nachhaltigen Wirtschaftsumbau konterkarieren würde. Der österreichischen Bundesregierung empfehlen sie, an ihrem „Nein“ zum Abkommen festzuhalten.
Mercosur steht für Mercado Común del Sur; Gemeinsamer Markt des Südens. Mit dem seit 1999 zwischen der EU und den Mercosur-Ländern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay verhandelten Abkommen sollen in den kommenden Jahren vor allem die Zölle gesenkt werden. Industrieprodukte aus Europa – insbesondere Autos, Maschinen und Chemieprodukte wie etwa Pestizide – und landwirtschaftliche Güter und Bergbauprodukte aus Lateinamerika werden ohne Zölle billiger.
Die EU-Kommission will das EU-Mercosur-Abkommen so schnell wie möglich finalisieren, obwohl mehrere EU-Mitgliedsstaaten diesem skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. In Österreich hat das Parlament die Regierung zu einem Nein verpflichtet. Doch auch in den Partnerländern Lateinamerikas ist das Abkommen umstritten und es gibt großen zivilgesellschaftlichen Widerstand dagegen. Vom EU-Lateinamerika-Gipfel erhofft sich die EU-Kommission, dennoch den Grundstein für eine Einigung zu legen.
Doch der derzeitige Entwurf des Abkommens genüge in keiner Weise den Anforderungen an eine zeitgemäße Handelspolitik, kritisieren österreichische Wissenschafter:innen in einer Aussendung von Diskurs. Das Wissenschaftsnetz. Es sei vollständig vom Geist der marktradikalen Handelspolitik des letzten Jahrhunderts durchdrungen, der wirtschaftliche Expansion auf dem Weltmarkt über ökologische Risiken und menschenrechtliche Bedenken stellt. Das zeige auch eine 2021 in der Fachzeitschrift Sustainability veröffentlichte Studie, in der mehrere Freihandelsabkommen untersucht werden.
„In seiner derzeitigen Form mangelt es dem Mercosur-Abkommen samt der geplanten Zusatzvereinbarung – soweit diese bekannt ist – an Transparenz und echter Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Auch die Regelungen zur Überprüfung der Einhaltung von ökologischen Standards und der Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen sind ungenügend“, konstatiert Univ.-Prof. Dr. Helmut Haberl vom Institut für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur (BOKU) in Wien, der angesichts der verschärften geostrategischen Spannungen infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine sowie der immer stärkeren Abhängigkeit von China durchaus Verständnis für die Versuche Europas hat, seine Handelsbeziehungen mit anderen Regionen wie etwa Lateinamerika zu intensivieren.
Mit dem Handelsabkommen werde durch umweltschädlich und sozial ausbeuterisch erzeugte Agrarimporte das Umschwenken auf eine nachhaltige Lebensmittelversorgung in Europa – u.a. Ziel des European Green Deals – erschwert und torpediert. „Über die Verlagerung umweltschädlicher Produktionen in Länder des globalen Südens, wie dies das EU-Mercosur-Abkommen vorantreibt, kann der ökologische Fußabdruck nicht gesenkt werden – zumindest, wenn man die in der Wissenschaft inzwischen übliche Miteinberechnung der Importe berücksichtigt“, ergänzt Univ.-Prof. Dr. Marianne Penker vom BOKU-Institut für Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung.
Das EU-Mercosur-Abkommen würde in seiner derzeitigen Form eindeutig zu Lasten der Natur und indigener Gemeinschaften in Südamerika gehen. Wie eine im Jahr 2022 in Nature Communications veröffentlichte Studie unter Beteiligung des Ökologen Franz Essl zeigte, ist schon heute die intensive und großflächige Landwirtschaft in Südamerika ganz massiv am dortigen Artenverlust beteiligt. Der Biodiversitätsforscher von der Universität Wien und österreichischer Wissenschaftler des Jahres 2022 sagt: „Der Haupttreiber dieser Entwicklung ist die Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten auf dafür gerodeten Waldflächen für den Export, etwa Soja, in dem die EU nur einen geringen Selbstversorgungsgrad hat. Das EU-Mercosur Abkommen würde diese Situation noch weiter verschlechtern“, so Essl.
Bereits 2019 kritisierten über 600 europäische Wissenschafter:innen in einem in der Zeitschrift Science veröffentlichten Aufruf, dass die EU 2017 mehr als drei Milliarden Dollar für Eisenerzimporte ausgab. Die 2011 importierten Fleischlieferungen entsprachen der Entwaldung von mehr als 10.000 km2, also in etwa der Fläche von Kärnten. Neben den verheerenden Umweltauswirkungen geht mit der Entwaldung und dem Ausbau von landwirtschaftlichen Anbauflächen und Bergbauprojekten die menschenrechtswidrige Verdrängung indigener Bevölkerungsgruppen einher.
„Die politischen Regeln für den internationalen Handel müssen neu aufgesetzt werden und dabei auf hohen Standards für Umwelt und Soziales beruhen”, fordert Ulrich Brand, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Wien und Aufsichtsratsvorsitzender der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE). Das Handelsabkommen EU-Mercosur setze auf das Recht der Stärkeren – ohnehin schon benachteiligte Gruppen werden darunter leiden.
Das Argument, wonach die EU mit einem Abkommen verhindern könne, dass China in Lateinamerika noch einflussreicher werde, lässt Brand nicht gelten,” weil China ja so oder so Handel mit den Ländern des Mercosur betreibt.“ Im Gegenteil: “Die EU hätte die Chance, mit einem fairen und ökologischen Abkommen voranzugehen und so andere Handelspartner wie China oder die USA unter Druck zu setzen“, meint Brand.
Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich laut Diskurs- Netzwerk evidenzbasierte Einwände gegen das EU-Mercosur-Abkommen vorbringen. „Die österreichische Regierung sollte daher von der Ablehnung des Abkommens, zu der sie sich vor unserem demokratisch gewählten Parlament verpflichtet hat, nicht abweichen“, empfiehlt Professor Brand abschließend.
Quelle: diskurs-wissenschaftsnetz.at, redigiert von Michael Wögerer
Titelbild: Containerhafen (Foto: Markus Distelrath / Pixabay)