Der Befreiungsakt des Erzählens
Eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt, wie sich die Biographie einer ganzen Familie in den Körper einer jungen Frau einschreibt und eine unbeschwerte Jugend verhindert. – Sonntag ist Büchertag
Von Nane Pleger (kritisch-lesen.de)
Am 01. Januar 1991 entschied die Innenministerkonferenz, dass jüdische Personen aus der ehemaligen Sowjetunion als Kontigentflüchtlinge nach Deutschland einreisen dürften. Die Rechtslage der sogenannten „Jüdischen Zuwander:innen“ wurde allerdings nicht eindeutig geklärt. Bis 2004, als die Symbolpolitik endete, „genauso abrupt, paradox und still wie sie 25 Jahre zuvor begonnen hatte“ (Belkin 2017), emigrierten über 220.000 Jüd:innen und ihre Familienangehörigen nach Deutschland. Gerade aus der Ukraine und aus Russland kamen viele junge Eltern, um ihren Kindern im „Westen“ eine bessere Zukunft zu bieten – besonders in diesen postsowjetischen Ländern herrschte nach dem Zusammenfall der UdSSR eine prekäre wirtschaftliche Lage die von Korruption und Willkür geprägt war und viele Menschen in eine existenzbedrohende Situation brachte.
Auch wenn die Realität in Deutschland für die Einwander:innen nicht mehr unbedingt existenzbedrohend war, war sie doch hart. Sie fanden sich häufig außerhalb der Gesellschaft wieder und mussten erfahren, was es bedeute im ehemaligen Nazi-Deutschland ein:e russischsprachige:r Migrant:in zu sein. Erhebungen des Jüdischen Museums Berlin halten fest, dass diese Realität sich für die Kinder änderte: „Tatsächlich erweist sich die Migration für die jungen Erwachsenen als sozialer und ökonomischer Erfolg, im Unterschied zu ihren Eltern, die nach der Einwanderung in hohem Maße von Arbeitslosigkeit und prekären Erwerbssituationen betroffen waren.“ (Körber 2016)
Das schwere Erbe der Kinder
„Alisa, weißt du warum wir in Deutschland leben?“
„Warum?“
„Ja, warum?“
„Warum?“
„Weißt du es nicht?“
„Damit aus mir etwas wird?“
„Richtig.“ (S. 78)
Die Protagonistin Alisa aus dem neuen Roman der deutsch-ukrainischen Schriftstellerin Lana Lux verlässt mit ihren Eltern die Ukraine, als sie zwei ist, und von Anfang an trägt sie die Verantwortung für diese Migration. Während ihre Eltern in Deutschland nie richtig ankommen – während der Vater kein Interesse an seiner neuen Heimat hat, versucht die Mutter zwar hartnäckig ihren Platz in der deutschen Gesellschaft zu finden, diese bleibt ihr aber unzugänglich – ist alle Hoffnung auf das junge Mädchen gesetzt, dass sie in Deutschland eine beachtliche Karriere starten wird und dem Wegzug aus der Heimat damit einen Sinn gibt. Die Leser:innen lernen Alisa kennen, als sie 15 Jahre alt ist und unter der Last dieser Verantwortung anfängt zu zerbrechen. Doch auf ihrem Körper liegt nicht nur das Gewicht, es ihren Eltern und besonders es ihrer Mutter Recht zu machen. Auf ihr liegt auch das gesellschaftliche Gewicht, den Normen, die Weiblichkeit in der modernen Welt definieren, zu entsprechen. Alisa hat weder Interesse an den Zielen ihrer Mutter, Ärztin zu werden, noch hat sie den kleinen, zierlichen Körper, der als weibliches Ideal imaginiert wird. In Alisa entsteht ein Gefühl, falsch zu sein, das sich schließlich in Selbsthass und -zerstörung transformiert.
„Da ihr Bauch fast täglich schmerzte, war sie gut darin, es zu ignorieren oder sich sogar drüber zu freuen, denn es war ein Zeichen, dass der Körper arbeitete und seine Vorräte in Form vom ekligen Fett aufbrauchte.“ (S. 35) Schonungslos erfahren die Leser:innen, wie Alisa mit einer Essstörung sich und ihren Körper versucht auszutilgen. Lux hat damit literarische Worte für die Theorie der Feministin Laurie Penny gefunden, die in ihrem Essay „Fleischmarkt“ (2012) schreibt:
„Frauen und Mädchen, die ihrer eignen Autonomie beraubt wurden, finden ein gewisses Maß an Autonomie in der physischen und psychologischen Selbstzerstörung durch das Hungern: Rebellion durch Selbst-Opferung, durch Übernahme der gesellschaftlichen Ideale der Dünnheit, Schönheit und Selbstverleugnung, bis zum logischen Extrem. Hunderttausende von Frauen […] zerstören sich in der Folge dieses Pyrrhus-Sieges selbst.“ (S. 49)
Der Roman führt den Leser:innen drastisch vor Augen, wie gefährlich der Hass gegen weibliche Körper ist, die als Analogie von weiblicher Selbstbestimmung gelesen werden können. Wem eine detaillierte Beschreibung dieser Selbstzerstörung zu sehr zusetzt, dem sei die Lektüre eher abgeraten.
Die Kraft des Heilens in der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte
Doch die Erzählung dieses harten Schicksals führt die Protagonistin schließlich auf einen Weg der Heilung – und dieser Weg ist maßgeblich durch den Akt des Erzählens geprägt. In der stationären Klinik „Schöne Aussicht“ erfährt Alisa, was es bedeutet, sich ihrer eigenen Lebensgeschichte zu stellen und sich ihrer zu ermächtigen. Dass sie schließlich selbst zur Erzählerin ihrer Geschichte wird und sich von den vorgegebenen Narrativen ihrer Mutter und der Gesellschaft löst, erfahren die Leser:innen aber durch eine veränderte Erzählstruktur, die den Roman wirklich lesenswert macht. Die Erzählperspektive ändert sich ab dem zweiten Teil immer wieder und die Leser:innen werden in die Geschichte von Alisas Mutter Tanya mitgenommen. Zunächst erst widerwillig, dann aber mit immer größerem Interesse nähert sie sich ihrer eigenen Vergangenheit und der Ursprung für Alisas Verzweifeln wird immer erkennbarer, „denn im Grunde ist unsere eigene Geschichte ohne die Geschichte unserer Familie gar nicht möglich, oder doch?“ (S. 204)
Tanya erzählt mit ihrem Leben auch von den vielen Erwartungen, die an Frauen erst in der sowjetischen Ukraine und schließlich im Deutschland der 90er Jahre gestellt werden. Immer wieder wird deutlich, wie untypisch es für eine Frau wie Tanya ist, von den schweren Zeiten ihres Lebens zu sprechen. „Heulen macht häßlich, sagte sie sich“ (S. 283) – das leitende Narrativ in Tanyas Leben war es, dass sie als Frau nach außen gepflegt und glücklich aussehen muss. Der Roman ist dabei ein gutes Beispiel dafür, wie der Mensch ein soziales Wesen ist, das sich mithilfe von Narrativen ein Selbst konstruiert und wie dieses Selbst bedroht sein kann, wenn es im Gegensatz zu den gängigen Erzählungen seiner Gesellschaft steht. Mit den Worten von Ouassil und Karig (2021) ist es eine Erzählung vom „homo narrans“, und wie dieser sich durch das Erzählen seiner Geschichte eine Identität aneignet und seinen Platz im sozialen Gefüge einnimmt. Ein Gefüge, dass für Menschen, die eine Migrationsgeschichte aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland haben, bisher kaum Platz für ihre Erzählung hat. Der Roman ist damit ein wichtiger Beitrag, um die Lücken des kollektiven Gedächtnisses um diese spezifischen Migrationserfahrungen zu füllen.
Zusätzlich verwendete Literatur
- Belkin, Dimitrij (2017): Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Verfügbar hier.
- Körber, Karen (2016): Jüdische Gegenwart in Deutschland. Die Migration russischsprachiger Juden seit 1989. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Verfügbar hier.
- Penny, Laurie (2012): Fleischmarkt. Hamburg: Edition Nautilus.
Lana Lux 2020: Jägerin und Sammlerin.
Aufbau Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-351-03798-7.
304 Seiten. 20,00 Euro.
Dieser Beitrag wurde am 11.04.2022 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken
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