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Standortsuche der Arbeiterklasse

Statt sie als Identitätspolitik zu verschmähen, sollten Erfahrungen und Erinnerungen von Arbeiter_innen ins Zentrum westlicher Erinnerungspolitik gesetzt werden. – Sonntag ist Büchertag

Von Lotte Warnsholdt (kritisch-lesen.de)

Buchcover
Sven Lindqvist – Grabe wo du stehst

Sven Lindqvist, promovierter Literaturhistoriker und Enkel eines Zementarbeiters, schreibt 1978 ein Handbuch für Arbeiter_innen, die ihre historisch gewordenen Lebensverhältnisse erforschen wollen. Am Beispiel der Zementindustrie Schwedens durchforstet er die Archive kapitalistischer Industrienationen. Etwa zehn Jahre später erscheint das Buch in der deutschen Übersetzung und wird hierzulande zu einem zentralen Werk für die gewerkschaftlich unterstützten Geschichtswerkstätten der 1980er Jahre. Es steht ganz in der Tradition der „Geschichte von unten“, die sich dem Alltag derjenigen zuwendet, die nicht auf der Seite der Gewinner im Kapitalismus stehen.

Lindqvist beschreibt aus materialistischer Sicht die Industriegeschichte Schwedens und wie es zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes gekommen ist. Ein solch explizit Arbeiter_innen-orientierter Ansatz findet sich heute selten auf den Bestsellerlisten. Allein deshalb lohnt sich der Gang in die Bibliothek, um das vergriffene Buch zu leihen.

Aber was sagt uns „Grabe, wo du stehst“ heute im Jahr 2023? Dort zu graben, wo man steht, bedeutet – auch wenn es tautologisch klingt – auch dort zu stehen, wo man gräbt. Es mahnt uns, auf die eigene Geschichte zu schauen und vor der eigenen Haustür zu kehren. Nach einer Standortsuche und eigenen Situierung, weist das Buch nämlich auf die eigentlich zentrale Frage hin: Wie stehen und graben wir? Wessen Geschichten werden erzählt und wessen Geschichten sind immer noch zu staubig und grau, um ans Tageslicht zu kommen?

Klassengesellschaft

„Die Arbeit, die Du machst, haben vor Dir andere getan. Wer waren sie, wovon träumten sie, was haben die ausgerichtet, wie kann man sie kennenlernen?“ (S. 20) oder

„Fang damit an, alte Protokolle, Briefe und andere Papiere Deiner eigenen Gewerkschaft aufzustöbern. Du kannst sie an den ausgefallensten Plätzen entdecken – in Slite [Gemeinde an der Küste Gotlands, Anm. LW] entdeckte ich welche im Heizungskeller des Hauses eines ehemaligen Gewerkschaftsfunktionärs.“ (S. 34)

Lindqvist bietet zu jedem seiner 30 Kapitel konkrete Fragen, mit denen man in die Forschung einsteigen kann. Sie sind Hilfestellungen, um erste Schritte ins Archiv zu wagen und sollen das Klassenbewusstsein der Arbeiter_innen respektive Leser_innen stärken. Mal sind diese Fragen poetisch, mal sind sie direktiv, manchmal führen sie an überraschende Orte.

Dabei erinnert Lindqvist an verschiedene Arbeiter_innenkämpfe und weiß, dass Theorie und Lebenswirklichkeit oft auseinanderfallen. So schreibt er in Hinblick auf die Schwierigkeiten der Arbeiter_innenbewegung in den 1920er Jahren: „Die Ausbeutung blieb ein theoretisches Problem, solange die praktische Schwierigkeit in Slite war, daß so viele keinen Arbeitgeber finden konnten, der gewillt war, sie auszubeuten.“ (S. 37)

Er ist sich im Klaren über die Lebensbedingungen der Arbeiter_innen und die macht-epistemischen Gefälle. Aber anstatt nur zu beschreiben, adressiert er die Probleme und bietet Hilfe. Beispielsweise weiß er, dass es Hemmnisse geben kann, offizielle Wissensinstitutionen aufzusuchen. Deshalb gibt Lindqvist interessierten Menschen Musterbriefe für öffentliche Einrichtungen zur Hand und erklärt, dass auch die Literatur der Unternehmensbibliothek in die Stadtbibliothek bestellt werden kann, falls es aus betriebsstrategischen Gründen nicht möglich ist, die Bibliothek des eigenen Unternehmens zu besuchen.

Im Kapital lebt die Geschichte weiter

Heute würde man Lindqvists Ansatz nicht nur marxistisch, sondern auch postkolonial nennen. Er setzt zwar in Schweden an, vermag es aber zudem das Spinnennetz der Globalisierung mitaufzunehmen. In Exkursen wird dargelegt, wie die Gewaltgeschichte Europas – unter der auch die europäischen Arbeiter_innen litten und leiden –, im Globalen Süden fortgesetzt wird. Über die Ausbeutung Lateinamerikas schreibt Lindqvist:

„Die Herren der beiden Unternehmen [Eigentümer der Firmen Bookers und DEMBA, Anm. LW] meinten, daß es ein Unrecht sei, die Sünden der Vergangenheit weiter als Zeugen gegen sie anzuführen. Aber das Resultat der Sünden der Vergangenheit – Grund und Boden, Gebäude, Maschinen, kurz gesagt: das Kapital – wollen sie selbstverständlich nicht abgeben. Das ist heiliges Privateigentum und darf nicht angerührt werden.“ (S. 26)

Es ist eine Aussage, die in den letzten 40 Jahren nicht an Aktualität verloren hat. Zwar gibt es immer mehr Initiativen wie den von der Harvard University verabschiedeten „Legacy of Slavery Fund“, der die Arbeit versklavter Menschen anerkennen und die sich fortsetzende Ungleichheit zumindest ansatzweise „reparieren“ möchte. Doch die Initiativen sind rar, während die Realität einer sich fortsetzenden Ungleichheit ungebrochen ist. Das zeigt sich in den USA, im Globalen Süden, genauso wie in Europa.

Die Schönheit in Lindqvists Denken und die Stärke seines politischen Ansatzes ist es, solidarisch mit allen Arbeiter_innen zu sein. Auch wenn Lindqvist die schwedische Zementindustrie als Beispiel anführt, überträgt er die Agenda auf die Arbeiter_innen weltweit, auf ihre Sorgen, Kämpfe und auf ihre jeweilige Zukunft.

„Die weißen Flecken der Darstellung“

Einiges von dem, was Lindqvist bemängelt, hat sich heute gewandelt. Es gibt Museen der Arbeit, in denen an das Leben der frühen Industriearbeiter_innen erinnert wird. Die Schule der „Geschichte von unten“ hat das Geschichtsbewusstsein unserer Väter, Mütter, Tanten, Onkel und zuletzt das Bewusstsein einer jüngeren Generation gestärkt. Doch die Machtverhältnisse haben sich nicht verändert, wir leben immer noch in einer Klassengesellschaft und die Ungleichheiten, die das Kapital produziert, ist heute – verstärkt durch die Krisen der letzten Jahre – größer denn je.

Weiße Flecken der Darstellung, wie der Herausgeber Manfred Dammeyer die Lücken der Geschichtserzählung nennt, finden sich auch im Buch. Lindqvist klammert die Reproduktionsarbeit aus, die genauso zur Arbeiter_innengeschichte gehört wie die Arbeit in den Fabriken. Er hat den Zement der Fabriken im Fokus. Das liegt auch daran, dass Lindqvist gegen eine staatliche Erinnerungspolitik anschreibt, die sich an der so leicht zu romantisierenden bäuerlich Lindgren’schen Landarbeit bedient, um die nationale Identität zu stärken.

Lindqvist kann jedoch nicht überall gleichzeitig hinschauen. Mindestens aber seit der von Silvia Frederici mitbegründeten Kampagne „Wages for Housework“ aus dem Jahr 1972 steht fest, wie wichtig Reproduktionsarbeit für die kapitalistische Produktionsweise ist. Die Kritik ist deshalb nennenswert, weil Care-Arbeit immer noch das tragende Konstrukt hinter jeder Lohnarbeit ist. Wenn etwas noch weniger Aufmerksamkeit erfährt als die Geschichte der Arbeiter_innen, dann ist es die Geschichte der weltweiten Care-Arbeiter_innen. Auch hierhin sollte unser Blick gehen, auch hier sollten wir Geschichte erzählen. Diejenigen von uns, die mit beiden Beinen in der Arbeit stehen, sollten graben.


Sven Lindqvist: Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte. Übersetzt von: Manfred Dammeyer.
Dietz Verlag, Bonn, 1989 – 336 Seiten
ISBN: 9783801201449.

Dieser Beitrag wurde am 17.01.2022 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Silvia Brazzoduro auf Unsplash

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