„Rechtsradikale versuchen, ihr Anliegen zum globalen Thema zu machen“
Der Sturm auf das Regierungsviertel in Brasilia 2023 zeigt Ähnlichkeiten zum Sturm auf das Kapitol in den USA 2021. Rechtsradikale Kräfte vernetzen sich international, sagt Niklas Franzen im Interview.
Interview: Ute Löhning (NPLA)
Am Sonntag, 8. Januar 2023, eine Woche nach der Amtseinführung von Lula, Luiz Inácio da Silva, stürmten Tausende Anhänger:innen des Ex-Präsidenten Jaír Bolsonaro das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasilia. Niklas Franzen berichtet als freier Journalist aus und über Brasilien. 2022 ist sein Buch „Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte“ bei Assoziation A erschienen. Wir haben mit ihm über die Hintergründe gesprochen, und ihn gefragt, wer hinter dem Bolsonarismus steht.
Herzlich willkommen, Niklas Franzen. Du bist als Journalist in Brasilien und hast am 8. Januar den Putschversuch miterlebt. Eine Woche nach der Amtseinführung des Präsidenten Lula, Luiz Inácio da Silva, haben Tausende Personen in der Hauptstadt Brasilia den Regierungssitz, das Parlament und den Obersten Gerichtshof gestürmt. Was genau ist geschehen?
Ich bin zwar in Brasilien, war aber am 8. Januar nicht in der Hauptstadt Brasilia, sondern in Rio und habe die Ereignisse über die Presse und über das Fernsehen verfolgt. Aber ich was eine Woche vorher, während der Amtseinführung von Lula, in Brasilia. Schon seit längerer Zeit hatten sich die Anhängerinnen von Bolsonaro dort in einem Protestcamp versammelt und seit Wochen zu dem großen Sturm auf Brasilia aufgerufen. Das ist dann genau an diesem Sonntag, dem 8. Januar, eskaliert. Im Laufe des Tages haben sich Tausende Anhänger:innen von Bolsonaro zusammengefunden. Sie haben den Kongress, den Obersten Gerichtshof und weitere Regierungsgebäude gestürmt und dort für stundenlanges Chaos gesorgt. Sie haben Polizeiketten überrannt und zum Teil haben die Polizist:innen sie auch einfach passieren lassen, zum Teil sogar Selfies mit ihnen gemacht. Sie haben eine Spur der Zerstörung und einen riesigen Sachschaden hinterlassen. Mehrere Journalist:innen wurden verletzt und erst am Abend konnten das Militär und die Bundespolizei diese Anhänger:innen von Bolsonaro vertreiben.
Wie viele Festnahmen gab es danach? Sind die Drahtzieher damit erfasst? Wie bewertest du das?
Nach diesem Sturm auf Brasilia gab es Festnahmen. Ich würde schon sagen, dass der Rechtsstaat mit voller Härte zurückgeschlagen hat. Da ist vor allem ein Richter am Obersten Gerichtshof zu nennen, Alexandre de Moraes. Der hat sehr schnell reagiert und hat angeordnet, mehr als 1500 Beteiligte verhaften zu lassen. Zum Teil sind diese immer noch in einer improvisierten Polizeistation in Brasilia untergebracht. Ob die Hintermänner jetzt schon gefasst sind, kann man noch nicht genau sagen. Es sieht so aus, als gäbe es reiche Auftraggeber:innen, die zum Teil dem Agrobusiness nahestehen sollen, die die Anreisen und zum Teil auch die Proteste finanziert haben sollen. Aber das ist alles noch nicht genau geklärt. Es hat auch Ermittlungen in mehr als zehn Bundesstaaten gegeben. Aber was da genau herauskommt, kann man noch nicht sagen. Dafür ist es noch zu früh, die Ermittlungen laufen noch. Aber es ist wohl so, dass das nicht einfach ein spontaner Auflauf war, sondern von längerer Hand geplant war. Inwieweit das auch in Kreise der ehemaligen Regierung und auch zu Bolsonaro reicht, kann man nicht genau sagen. Bolsonaro hat sich zaghaft von diesen Ausschreitungen distanziert. Aber natürlich hat er eine große Mitschuld daran, dass die Situation so eskalieren konnte. Bolsonaro hat in seiner Amtszeit immer wieder gegen die demokratischen Institutionen gehetzt, immer wieder zu solchen Gewalttaten aufgerufen und er hat Journalist:innen beleidigt. Im Prinzip hat er genau das ausgegeben, was jetzt am 8. Januar eskaliert ist. Boldonaro ist es während seiner Amtszeit gelungen, eine sehr aktive Bewegung hinter sich zu scharen, die nicht nur im Netz aktiv ist. Seit der Abwahl von Bolsoaro bzw seit der Wahl des Sozialdemokraten Lula haben im ganzen Land Aktionen stattgefunden. Es gab Straßenblockaden, an denen sich viele Menschen beteiligt haben. Menschen aller Altersgruppen, mit ganz unterschiedlicher Klassenzusammensetzung: vom Banker bis zum Müllsammler waren wirklich alle dabei. Es gab Protestcamps und Mobilisierungen vor Kasernen. Es gab wirklich einen Moment auf der Straße, und dieser Sturm auf das Regierungsviertel in Brasilia war jetzt der traurige Höhepunkt. Ich würde aber nicht sagen, dass dahinter eine Person oder eine Gruppe steht. In dieser Bewegung kommen verschiedene Gruppen zusammen, was wir oft auch als Bolsonarismus bezeichnen. Das sind zum Teil Menschen aus den Sicherheitskräften, zum Teil Kleinunternehmertypen. Wie auf Bildern zu sehen ist, haben am 8. Januar auch christliche Fundamentalist:innen wieder kräftig mitgemischt. Da kommen ganz viele unterschiedliche Gruppen zusammen.
Bemerkst du im Moment auch im Alltag immer noch eine zugespitzte Situation und ein Infragestellen der Wahl Lulas?
Es kommt natürlich darauf an, mit wem man spricht und wo man sich gerade bewegt. Durch den Regierungssturz haben sich Teile der bolsonaristischen Szene wirklich selbst „ins Aus“ geschossen. Es gab eine sehr scharfe Distanzierung seitens der brasilianischen Zivilgesellschaft, auch seitens den Medien und der demokratischen Institutionen. Insgesamt ist es seit der Wahl fast schon Usus geworden, dass die großen Medien die Proteste der Bolsonaristen fast vollständig ignorieren. Es gab im ganzen Land Proteste und Blockaden. Irgendwann setzte aber fast schon so etwas wie ein Medienboykott ein. Das führt in der Gesamtgesellschaft dazu, dass diese Gruppen viel weniger Aufmerksamkeit bekamen. Aber innerhalb ihrer Blase, wo die traditionellen bürgerlichen Medien sowieso nicht mehr konsumiert werden, kommt das nicht an. Da wähnt man sich immer noch auf der richtigen Seite, man denkt, man repräsentiert die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung, man hält sich für den Vollstrecker des Volkswillens. Teile dieser bolsonaristischen Szene driften immer mehr in rechtsradikale Paralleluniversen ab. An die ist kaum noch ranzukommen, weil sie sich komplett abgeschottet haben. Durch die Ereignisse am 8. Januar besteht auch die Befürchtung, dass sich diese Szene weiter radikalisiert und dass da auch mit weiterer Gewalt zu rechnen ist.
Worin besteht die ideologische Nähe in dieser Bewegung und was sind die wichtigsten Mobilisierungsfelder des Bolsonarismus?
Es geht um eine tiefe Verschwörungserzählung, dass man sich als Opfer eines Systems wähnt, das als Machtelite oder als kommunistische Verschwörung gesehen wird. Da gibt es teilweise antisemitische Konnotationen. Dazu kommt eine tief wertkonservative Einstellung, zentral sind dabei auch die christlich fundamentalistischen Elemente. Eine ganz wichtige Rolle spielt der Militarismus, hier sind auch die Kontakte zu den Sicherheitskräften zu nennen. Da kommen ganz verschiedene rechtsextreme Ideologien und Positionen zusammen und gerade das macht den Bolsonarismus aus, dass es keine festgelegte Ideologie ist, und das macht ihn auch so gefährlich. Für die Anhänger:innen oder auch für viele Brasilianer:innen macht gerade das den Bolsonarismus sehr attraktiv, da können sich viele Leute einfach wiederfinden. Die Klammer ist die Vorstellung, dass etwas schief läuft: das wird dann oft einem System oder einem Establishment zugeschoben. Dann wird gesagt, dass es jemand braucht, der mit Stärke oder mit Ordnung wieder aufräumt, das ist klassischer Populismus. Hinzu kommen natürlich noch Spezifika aus Brasilien, wie der Rassismus, der in der brasilianischen Geschichte sehr prägend ist, die nicht aufgearbeitete Militärdiktatur. Das unterscheidet sich in den jeweiligen Ländern immer so ein bisschen. Aber einige Grundelemente von solchen Bewegungen wie dem Trumpismus und dem Bolsonarismus sind ein tiefes Misstrauen eines vermeintlichen Systems, was gegen sie steht und dazu kommt auch diese konstante Stilisierung als Opfer.
Das klingt alles recht ähnlich zu Verschwörungserzählungen, die es auch in anderen Ländern, auch hier gibt. Wie schätzt du die Rolle der internationalen Vernetzung in diesem Kontext ein?
Der Sturm auf das Regierungsviertel in Brasilia hat ganz gut gezeigt, dass rechtsradikale oder rechtsextreme Kräfte voneinander lernen. Vor zwei Jahren gab es den Sturm auf das Kapitol in den USA. Die Bilder gleichen sich wirklich sehr, nicht nur die Bilder, auch die Narrative und die Verschwörungstheorien, die dahinter liegen. Das zeigt, dass rechte Kräfte international sehr gut aufgestellt sind, transnational verbunden sind und so auch ein Lernprozess eingetreten ist. Das soll nicht bedeuten, dass jede rechtsradikale Gruppe oder Partei Kontakte ins Ausland pflegt. Aber gerade in dem Fall der Bolsonaro-Familie ist es ganz offensichtlich, dass es dort enge Verbindungen ins Ausland gibt. Vor allen Dingen ist dort der Sohn von Bolsonaro zu nennen, Eduardo Bolsonaro, der auch als so etwas wie ein inoffizieller Außenminister gilt, der sehr aktiv und umtriebig ist. Er ist viel auf internationalen Konferenzen, und wirklich sehr gut, sehr eng mit der Orban Regierung vernetzt und verbunden ist, auch mit der abgewählten Trump-Administration. Das zeigt, dass die Rechte auch versucht, bestimmte Narrative und Diskurse zu internationalisieren. Zum Teil sind sie damit wirklich sehr erfolgreich. Wenn man sich jetzt zum Beispiel die Prozesse in Israel anguckt, die neue rechtsradikale Regierung: auch dort werden bestimmte Diskurse verwendet, zum Beispiel die Angriffe auf das Justizsystem, die wir in gleicher Weise und zum Teil wortgleich in den USA und auch in Brasilien erlebt haben. Das zeigt ganz gut, wie bedrohlich auch dieses Szenario ist und dass die rechten oder die rechtsradikalen Kräfte versuchen, wirklich aus ihren Anliegen ein globales Thema zu machen.
Hier könnt ihr das Interview als Audio hören.
Dieser Beitrag erschien am 29.01.2022 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Titelbild: Oberster Gerichtshof in Brasilia nach der Zerstörung am 8.1.2023. Foto: Rosinei Coutinho/SCO/STF via fotospublicas.com