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«China würde mich rausschmeißen»

Karin Wenger war seit 2009 für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in Asien unterwegs. Nun ist sie zurück und legt drei Bücher vor über Menschen, denen sie begegnet ist. Im Interview verrät sie nicht nur, warum es ein Vorteil ist, in diesem Job eine Frau zu sein.

Von Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Willkommen zurück in der Schweiz!

Karin Wenger: Danke! Es ist erfrischend wieder in einem Land zu sein, wo man in den Seen schwimmen und das Leitungswasser trinken kann.

Aerni: Gibt es eigentlich auch eine Art Kulturschock für Schweizerinnen und Schweizer, die nach längerem Auslandaufenthalt wieder nach Hause kommen?

Wenger: Das sagt man. Ich habe den nie wirklich gefühlt, sondern bin immer sehr schnell wieder im Schweiz-Modus und trenne wieder brav den Abfall … was mich jedoch immer wieder erstaunt, ist, worüber sich Menschen hier aufregend können, zum Beispiel das ein Zug vier Minuten zu spät kommt. In Indien musste ich manchmal froh sein, dass der Zug nur wenige Stunden zu spät war und nicht einen ganzen Tag … da verschiebt sich die Wahrnehmung – und Wertschätzung.

Aerni: Wir vernahmen von Ihnen seit 2009 als SRF-Korrespondentin für Süd- und Südostasien eine Menge Berichte, Einschätzungen und Eindrücke. Wie dürfen wir die Auswahl der von Ihnen bearbeiteten Themen vorstellen?

Wenger: Es gibt sogenannte Must-Themen, also Themen, die man einfach machen muss. Dazu gehören Wahlen, Naturkatastrophen wie beispielsweise die grosse Flut in Pakistan 2010, das Erdbeben in Nepal 2015, aber auch politische und kriegerische Ereignisse wie der Militärputsch in Myanmar im Februar 2021, der Krieg in Afghanistan oder die Vertreibung von Hunderttausenden von Rohingya 2016 und 2017. Dann gibt es die anderen Themen, die ich frei wählen konnte.

Aerni: Sie konnten frei Themen bestimmen?

Wenger: Das Schöne ist, dass Asien ziemlich weit weg ist von der Schweiz und deshalb nicht über jede Zuckung – wie beispielsweise aus unseren Nachbarländern – berichtet werden muss. Das gab mir sehr viele Freiheiten. Ich nutzte sie, in dem ich viel reiste, um auf diesen Reisen vor Ort in den Ländern Menschen zu begegnen und über ihre Lebenswelten zu berichten.

Aerni: Quasi unser Auge vor Ort…

Wenger: Ich sah mich immer als eine Art Brücke in die Schweiz, damit man hier etwas besser versteht, was weit entfernt in der Welt geschieht – und oft haben diese fremden Welten ja Berührungspunkte in die Schweiz. Ihr T-Shirt wurde zum Beispiel sicher nicht hier produziert, sondern wahrscheinlich in Bangladesch oder Vietnam. Ich finde es deshalb wichtig, dass wir die Lebenswelten einer Näherin aus Bangladesch verstehen.

Aerni: Nun liegen drei Bücher vor, in denen Sie nicht nur Informationen über die Kulturen dokumentieren, sondern von Menschen erzählen, denen Sie begegnet sind und die Unglaubliches erlebt haben. Wie fanden Sie die Zeit zum Schreiben?

Wenger: Vor Corona fand ich keine Zeit zum Schreiben. Damals reiste ich fast die Hälfte der Zeit, sammelte die Geschichten und kehrte regelmässig zu den Menschen zurück, die ich im Rahmen meiner Berichterstattung getroffen hatte. Dann kam die Pandemie und die Grenzen wurden geschlossen. Ich konnte nicht mehr reisen. Das gab mir die Zeit, endlich die vielen Geschichten zu sortieren, die Essenz herauszufiltern und sie schliesslich in drei Büchern zu verpacken.

Aerni: Nach dem Studium der Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften und Journalistik wurden Sie als Vollblut-Journalistin bekannt und zum Beispiel durch den Zürcher Journalistenpreis 2006 geehrt. 2008 veröffentlichten Sie auch Ihr erstes Buch «Checkpoint Huwara». Was macht diesen Beruf aus und woher kommt Ihre Leidenschaft?

Wenger: Die Leidenschaft des Reisens wurde mir von meinen Eltern, die fünf Jahre mit einem VW-Bus um die Welt gereist waren, in die Wiege gelegt. Und die Faszination für Geschichten und die Liebe zu Menschen, die ist wohl angeboren. Kombiniert ergibt das ganz natürlich den Beruf der Auslandkorrespondentin. Es ist für mich der schönste und aufregendste Beruf der Welt. Es ist ein Beruf, bei dem ich neue Welten entdecken, Menschen begegnen und ständig lernen kann. Was gibt es Besseres?

Aerni: Bei der Lektüre erfahre ich, dass die von Ihnen porträtierten Menschen Unvorstellbares erlebt haben, aber dennoch ihre Würde und die Lust am Leben nicht verloren haben. Welche Schlussfolgerungen haben Sie für sich gezogen?

Wenger: Ich habe von diesen Menschen gelernt, dass das Leben oft eine Frage der Perspektive, der Haltung, die man einnimmt, ist. Youk Chhang…

Aerni: … den Sie in Ihrem Buch «Bis zum nächsten Monsun» porträtieren.

Wenger: Genau. Er hat nur knapp den Genozid der Roten Khmer überlebt. Trotzdem sagt er, wenn er an jene Zeit zurückdenke, dann erinnere er sich an die Schönheit der Blumen, diese habe ihm geholfen, Jahr für Jahr weiterzuleben. Er hat sich also entschieden, den Blick auf die Schönheit zu richten, um weiterleben zu können, nicht auf das Grauen. Was er auch sagte, war, «Ich bin ein Überlebender der Roten Khmer, aber ein Opfer bin ich nicht mehr. Ein Opfer zu sein, bedeutet, dass du eine unüberwindbare Barriere, eine Mauer zwischen dir und den anderen errichtest. Wie aber willst du leben, andere verstehen, Beziehungen aufbauen, wenn du dich einmauerst?»

Aerni: Haben Sie eine Art Muster durch all diese Schicksale erkennen können?

Wenger: Bei allen meinen Begegnungen stellte ich folgendes fest: Jene Menschen, die es schafften, sich nicht als Opfer zu sehen, hatten eine Chance weiter zu leben und ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben.

Karin Wenger und Urs Heinz Aerni.
Karin Wenger und Urs Heinz Aerni. Foto: Kulturkommission Fislisbach

Aerni: Die persönliche Perspektive, die Sie als Autorin einnehmen, macht deutlich, wie Sie auch zwischen Job und Privatperson hin- und hergerissen sind, zwischen Berichten und Helfen. Konnten Sie für sich die richtige Balance finden?

Wenger: Es gibt die Journalistin Karin Wenger und den Mensch Karin Wenger und beides gehört zusammen. Natürlich arbeite ich mit dem journalistischen Handwerk, das ich gelernt habe, aber ich versuche dabei nie zu vergessen, dass Menschen mehr sind als Geschichten. Im Journalismus sprechen wir oft von der Objektivität als einem der wichtigsten Prinzipien in unserem Beruf.

Aerni: Aber?

Wenger: Ich merkte jedoch immer wieder bei meinen Begegnungen, dass ich die Welt der anderen und um mich herum auf der Grundlage meines Hintergrunds, meiner kulturellen und familiären Prägung interpretierte. In diesem Sinne gibt es keine reine Objektivität, sondern nur immer eine Interpretation der Welt und die ist bei allen anders. In meinen Büchern versuchte ich deshalb, ehrlich diese Wahrnehmung zu reflektieren und auch meinen eigenen Zweifeln und Fragen Raum zu geben. Ich will ja nicht ein absolutes Bild der Welt zeichnen, sondern aufzeigen, wie viele Schattierungen diese Welt hat.

Aerni: Sie lebten in Welten, in denen Kriege und männerdominierende Gesellschaftsstrukturen herrschen. Wie konnten Sie als Frau sich darin bewegen und vor allem, Ihren Job als Journalistin machen?

Wenger: Das ging ganz prima. Als Frau in männerdominierten Gesellschaften hat man unglaublich viele Vorteile!

Aerni: Zum Beispiel?

Wenger: Meist denken die Männer dort, als Frau sei man unfähig und schwach und wollen dann helfen. «Sehr gerne!», habe ich da immer gesagt. Zudem hatte ich so, weil ich oft nicht ganz ernst genommen wurde als Frau, viel grössere Freiheiten ganz naiv zu fragen, was immer ich wollte – und die Männer plauderten einfach drauf los. Und dann hat man natürlich noch einen ganz entscheidenden Vorteil: Als Frau konnte ich immer Frauen begegnen, beispielsweise in Afghanistan, während meine männlichen Kollegen vor der Tür warten mussten.

Aerni: Wo sehen Sie die Aufgaben und die Herausforderungen des guten Journalismus in den nächsten Jahren?

Wenger: Genügend Zeit zu haben, um zu recherchieren, nachzufragen, in die Tiefe zu gehen und Dinge auch beobachten und entstehen zu lassen. Vieles muss heute wegen Sparzwängen schnell gehen – zu schnell. Die Qualität leidet.

Aerni: Wir treffen uns in einem Café irgendwo hier in der braven Schweiz, könnten Sie sich vorstellen in ihrem Heimatland für solche Reportagen unterwegs zu sein? Wenn ja, wie würden Sie vorgehen?

Wenger: Natürlich! Ich habe ja beim Zürcher Unterländer, einer Regionalzeitung, als Teenager begonnen. Zu den Bauern zu gehen oder an Gemeindeversammlungen waren immer Reisen in fremde Welten. Das ist spannend und die Begegnungen, egal ob im Ausland oder hier.

Aerni: Sie berichteten für das Radio, traten aber auch vor der TV-Kameras auf und schrieben vier Bücher. Wie gross ist Ihr Glaube an die Kraft des geschriebenen Wortes?

Wenger: Sehr gross. Diese Bücher haben es mir ermöglicht, die Geschichten in ihren vielen Facetten zu erzählen – etwas, was bei einem zwei-minütigen Radio- oder Fernsehbeitrag oft nicht möglich ist. Die Welt ist aber meist komplizierter, als es zwei Minuten erlauben und vieles kann man auch nicht in Bildern festhalten, deshalb glaube ich sehr fest an die Kraft des geschriebenen Wortes.

Aerni: Nun ist steht eine Auszeit an. Wie wird diese aussehen?

Wenger: Ich werde wieder eine ganz, ganz andere, neue, fremde Welt entdecken: Ich gehe ein Jahr lang mit meinem Partner Segeln. Ich bin gespannt, wie wir das meistern werden, zu zweit auf so engem Raum mitten auf dem grossen Meer…

Aerni: Welche Region würden Sie für den nächsten Korrespondentinnen-Job auswählen: Graubünden, Zentralafrika, China oder Zentralamerika?

Wenger: Das wäre meine Reihenfolge: Zentralafrika, Zentralamerika, Graubünden, China – da würden sie mich wahrscheinlich in kürzester Zeit rausschmeißen, weil Diplomatie nicht wirklich zu meinen Stärken gehört.

Aerni: Was wir einem Jäger oder einer Fischerin wünschen, ist allgemein bekannt. Was dürfen wir Ihnen als Journalistin wünschen?

Wenger: Auch in Zukunft die Möglichkeit und Zeit zu haben, fremde Welten zu entdecken, um dann mit Reportagen die Brücke in die Schweiz schlagen zu dürfen, damit die weit entfernten Welten auch hierzulande weniger fremd werden.

+++

Die Bücher von Karin Wenger: «Bis zum nächsten Monsun», «Verbotene Lieder» beide im Stämpfli Verlag und «Jacob der Gefangene», Matthes & Seitz

Karin Wenger wurde 1979 ist in Zürich geboren. Sie studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalistik und Politologie. Während des Studiums arbeitete sie als Friedensbeobachterin in Chiapas, recherchierte zum Nordirlandkonflikt in Belfast und verbrachte ihr letztes Studienjahr an der Universität Birseit im Westjordanland. Von 2004 bis 2007 arbeitete sie als freie Journalistin in Gaza, im Westjordanland und in Israel. 2008 koordinierte sie in Syrien für die «Medical Aid for Palestinians» Hilfsgüter und medizinische Hilfe in den Flüchtlingslagern an der irakischen Grenze. 2009 zog sie als Südasienkorrespondentin für Schweizer Radio SRF nach Neu-Delhi und berichtete unter anderem über den Krieg in Afghanistan, Naturkatastrophen in Pakistan und Nepal und die vielschichtige Demokratie Indiens. Seit 2016 leitet sie das Südostasienbüro von Schweizer Radio SRF in Bangkok. Für ihre Arbeit als Journalistin wurde sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Zürcher Journalistenpreis.


Titelbild: (c) Kultur48 Zürich

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