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Ausblick 2023: Sozialer Fortschritt ist machbar

Wirtschaftlich, sozial und politisch mögen die Aussichten derzeit nicht so erfreulich sein. Doch: Die Weichen richtig gestellt, kann 2023 das Jahr der Wende zum Besseren sein.

Von Markus Marterbauer (A&W-Blog)

Konjunktur schwingt ab, Klimakrise intensiviert sich, Ungleichheit wächst

Die Konjunktur befindet sich im Abschwung. Die Rezession kann so mild ausfallen und die Arbeitslosigkeit so verhalten steigen, wie es das WIFO prognostiziert. Doch es kann auch stärker bergab gehen. Die durch enorme Finanzinvestitionen institutioneller Anleger spekulativ überhöhten Preise im Immobiliensektor beginnen auch in Folge steigender Zinssätze vielerorts zu fallen. Das kann rasch in Liquiditätsproblemen und Stress in anderen Finanzmarktsegmenten münden, der auch durch hohe Verschuldung bei Haushalten, Staaten, Unternehmen und Finanzinvestoren genährt wird. Für Österreich kommen massive wirtschaftliche Probleme beim Nachbarn Ungarn dazu, die durch inferiore Wirtschaftspolitik, besonders hohe Inflation (November: 22 Prozent), hohe Budget- und Leistungsbilanzdefizite verursacht sind.

Energie- und Klimakrise belasten die Volkswirtschaft heute mit enormen Kosten, und das politische System in Österreich und der EU reagiert mit viel zu großer Trägheit auf die Gefahren, sodass die kurz- und mittelfristigen wirtschaftlichen, wie ökologischen Kosten unnötig noch weiter erhöht werden. Gravierende soziale Kosten entstehen bei den unteren Einkommensgruppen, die von der Klimakrise besonders betroffen sind, ohne über individuelle Anpassungsmöglichkeiten zu verfügen, während das unverantwortliche Konsumverhalten der Reichen und Besserverdienenden die Klimakrise verschärft.

Eine große Gefahr geht zudem von der durch Covid- und Teuerungskrise getragenen Zunahme der Ungleichheit aus. Auf der einen Seite stehen die Krisengewinner:innen, darunter der Energiesektor mit kolossalen Übergewinnen, institutionelle Anleger:innen, multinationale Konzerne und die von steigenden Kapitaleinkommen begünstigten oberen Einkommensgruppen. Auf der anderen Seite rutscht das untere Einkommensdrittel in fast allen EU-Ländern in Richtung Armutsgefährdung ab und die breite Mitte erleidet teils erhebliche Reallohnverluste. Ungleichheit hat negative wirtschaftliche Effekte, weil die Nachfrage sinkt und die Unsicherheit steigt.

Die hohe Ungleichheit hat gravierende Folgen für die Demokratie. Im SORA Demokratie-Monitor stimmen 73 Prozent der Personen des unteren Einkommensdrittels der Aussage sehr oder ziemlich zu: „Die Politik behandelt Menschen wie mich oft als Bürger zweiter Klasse.“ Benachteiligte fühlen sich und ihre Interessen in der Politik nicht vertreten. Wenn sich das untere Einkommensdrittel enttäuscht von der Demokratie ab- oder rechtsextremen Bewegungen zuwendet, dann ist Feuer am Dach.

Armutsgefährdung politisch bestimmt

Die Politik reagiert nicht ausreichend auf diese immense Gefahr. Zwar hat die Bundesregierung 2022 mit hohen Einmalzahlungen die Einkommen gestützt, Teuerungseffekte ausgeglichen und die Sozialleistungen indexiert. Doch Einmalzahlungen bleiben Einmalzahlungen, die Anpassung der Sozialleistungen reicht nicht aus, weil die Armutsgefährdung bereits vor der Teuerungskrise hoch war und nun noch massiv verschärft wird, und die Maßnahmen signalisieren nicht, dass die Ängste der Menschen ernst genommen werden. Das gilt besonders für die in hohem Ausmaß von sozialer Ausgrenzung betroffenen Arbeitslosen. Im zweiten Quartal 2022 gaben 51 Prozent aller Arbeitslosen an, sich eine unerwartete Ausgabe in Höhe von 1.300 Euro finanziell nicht leisten zu können, 32 Prozent können sich keine Kleinigkeit gönnen, 26 Prozent können sich das Warmhalten der Wohnung, 20 Prozent eine warme Mahlzeit nicht leisten.

Und gleichzeitig fordern ÖVP-Wirtschaftsbund, Agenda Austria und NEOS massive Einschnitte bei der Notstandshilfe für Langzeitarbeitslose. Neoliberale Wirtschaftspolitik zielt darauf ab, Arbeitslosen, Armutsgefährdeten und prekär Beschäftigten Angst zu machen, damit die Leute schlechte Jobs annehmen, von denen im Moment so viele offen sind. Eine „Politik der Angstmacherei“ wird auch mit befristeten Mietverhältnissen, der dauernden Infragestellung der Finanzierbarkeit des sozialen Pensionssystems, einer zu jedem ungeeigneten Anlass beschworenen „Migrationskrise“ oder den vielen Beispielen dafür betrieben, wie es sich die wirtschaftlichen Eliten richten können.

Demokratie gefährdet

Kein Wunder, wenn sich Arbeitslose, Ein-Eltern- und Mehr-Kind-Familien, Hilfsarbeiter:innen, Mindestpensionist:innen da klein machen, nichts mehr von der Politik erwarten und an Wahlen erst gar nicht mehr teilnehmen. Dazu kommt, dass jene, die kleine Einkommen beziehen, oft gar nicht wahlberechtigt sind. Mehr als die Hälfte der Hilfsarbeiter:innen verfügt über keine österreichische Staatsbürgerschaft.

Mindestens so sehr, wie die Demokratie durch den Rückzug des unteren Einkommensdrittels gefährdet ist, ist sie durch den übergroßen Einfluss der Milliardär:innen und Multi-Millionär:innen in Gefahr. Sie finanzieren Wahlkämpfe und Parteien, Medien und neoliberale Think-Tanks. Die Politik nimmt sie täglich wichtig, auf der symbolischen Ebene ebenso wie auf der faktischen Ebene der ökonomischen Interessen. Wer Demokratie und sozialen Zusammenhalt retten will, muss verlässlich und klar für die Inklusion der unteren Einkommensgruppen und für die Begrenzung des schädlichen Einflusses der Milliardär:innen eintreten.

Soziale Untergrenzen festigen

Bessere soziale Untergrenzen im Rahmen der bestehenden Sozialsysteme geben den Menschen Sicherheit, erhöhen ihre Freiheit und sind für den Erhalt der Demokratie unverzichtbar. Von ihnen und dabei besonders von der Verbesserung der sozialen Dienste profitiert auch die breite Mitte. Dafür können bereits 2023 konkrete Schritte gesetzt werden:

Grafik: 7 Schritte zu fester Untergrenze, starker Mitte und Vermögensbegrenzung
Grafik: A&W-Blog
  • Eine Arbeitsmarktreform, die Arbeitslosengeld und Notstandshilfe erhöht, die Vermittlung stärkt und Mindeststandards wie etwa einen Mindestlohn von 2.000 Euro für jeden vermittelten Arbeitsplatz einzieht, Qualifizierungsmaßnahmen ausbaut, die Anzahl von AMS-Berater:innen erhöht und Langzeitarbeitslosen eine garantierte Beschäftigung anbietet. Ein Beginn des Umbaus der Arbeitsmarktinstitutionen, damit diese in Zukunft auch in der Lage sind, Beschäftigte aus schlechten Jobs und Firmen in gute Arbeitsplätze zu lotsen, von deren Einkommen man leben kann und die ordentliche Arbeitsbedingungen aufweisen. Beginnende Arbeitskräfteknappheit erleichtert diese Maßnahmen entscheidend.
  • Intensivierung der jüngst bereits erfolgreichen Bemühung der Gewerkschaften, im Rahmen der Kollektivvertragspolitik die Lohnuntergrenzen überproportional anzuheben. 650.000 Vollzeitbeschäftigte verdienen unter 2.000 Euro brutto (14-mal). Das Ziel ist es, die Mindestlöhne mit raschen Schritten über diese Schwelle zu heben. Aktive Struktur- und Qualifizierungspolitik sowie Arbeitskräfteknappheit wären hilfreiche Rahmenbedingungen für diese Politik.
  • Sozialhilfe und Mindestsicherung deutlich erhöhen, sodass die Leistungen armutsfest werden, und die Verknüpfung zur Arbeitsmarktpolitik stärken. Unterhaltsvorschuss und Mindestpension zügig anheben. Energiearmut bekämpfen über eine „Housing first“-Strategie Wohnungslosigkeit verhindern.
  • Schrittweiser Ausbau der Angebote und Leistungen in Gesundheit und Pflege für alle Menschen, um die bestehende Zwei-Klassen-Versorgung zurückzudrängen, rasche Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Löhnen in Gesundheit und Pflege.
  • Rascher Ausbau und rasche Verbesserung der Qualität von Elementarpädagogik und des Angebots an Tagesbetreuung für 6- bis 13-Jährige, um alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft zu fördern und allen erwachsenen Familienmitgliedern die Möglichkeit zur Ausweitung der Arbeitszeit sowie Erzielung eigener Einkommen und sozialer Absicherung zu eröffnen.
  • Investitionsoffensive in erneuerbare Energiequellen, Mobilität und öffentliche Infrastruktur vor allem auf Ebene der Städte und Gemeinden, wo ein enormes Potenzial zum guten Teil ungenutzt schlummert. Dafür muss die Vergabe der erfreulicherweise im Budget 2023 zu diesem Zweck vorgesehenen 500 Mio. Euro so gestaltet werden, dass sie von allen Kommunen und für alle adäquaten Projekte abrufbar ist. In den Folgejahren soll das Finanzierungsvolumen kontinuierlich und verlässlich steigen. Kurzfristig ist auch ein stärkerer Einsatz von Regulierungen wie etwa von Geschwindigkeitsbeschränkungen im Verkehr umsetzbar.
  • Priorität im 2023 zu verhandelnden Finanzausgleich auf verstärkte Aufgabenorientierung, die verbindliche Mittelzusagen für dokumentierte Leistungsverbesserungen in Infrastruktur, Gesundheit, Pflege, Bildung und Kinderbetreuung macht. Erste Schritte in der Entflechtung der föderalen Zuständigkeiten in diesen elementaren Politikbereichen.

Sozialer Fortschritt ist finanzierbar

Für alle diese Maßnahmen der Festigung sozialer Untergrenzen liegen konkrete Konzepte vor. Ihre Umsetzung erhöht die Sicherheit und den Wohlstand und sie kostet viel Geld. Die Arbeitsmarktreformen kosten etwa 1,5 Mrd. Euro, Sozialhilfereform etwa 1 Mrd. Euro, Gesundheit und Pflege kurzfristig mindestens 2 Mrd. Euro (mittelfristig ein Vielfaches), Ausbau Elementarpädagogik 1,5 Mrd., Tagesbetreuung kurzfristig 200 Mio. (mittelfristig 800 Mio.). Das sind Bruttokosten. Im Unterschied zu Steuersenkungen finanziert sich der Ausbau personalintensiver sozialer Dienste zu einem erheblichen Teil selbst, das WIFO geht von Rückflüssen durch höhere Steuern und Beiträge in Höhe von etwa 70 Prozent aus. Öffentliche Investitionen mit langfristigen gesellschaftlichen Erträgen, wie etwa jene gegen die Klimakrise, sollten sinnvollerweise über Verschuldung finanziert werden.

Die Finanzierung der Nettokosten der besseren sozialen Untergrenzen ist kurzfristig leicht umsetzbar: Die Arbeitsmarktreform kann durch Experience Rating finanziert werden, indem Firmen, die besonders oft kündigen, höhere ALV-Beiträge zahlen oder für die ersten Wochen das Arbeitslosengeld übernehmen (Aufkommen mindestens 500 Mio.). Die Erhöhung der Sozialhilfe oder der Ausbau der Tagesbetreuung der 6- bis 13-Jährigen können durch den Verzicht auf die beschlossene Senkung des Körperschaftssteuersatzes finanziert werden (Aufkommen: 800 Mio.). Die Bekämpfung von Energiearmut, Wohnungslosigkeit und weiterer Kaufkrafthilfen können mit einer Übergewinnsteuer auf Energiekonzerne finanziert werden (Aufkommen 2022 bis 2024: 5 Mrd. Euro).

Progressive Vermögens- und Erbschaftssteuer

Doch um die sozialen Untergrenzen mittel- und längerfristig budgetär abzusichern, sind vor allem progressive Steuern auf Vermögen und Erbschaften notwendig. Und schließlich wird die Rettung der Demokratie nicht gelingen, ohne dass über eine Obergrenze beim Vermögen der schädliche Einfluss der Milliardär:innen auf die Gesellschaft eingehegt wird.

Eine progressive Vermögenssteuer mit einem sehr hohen Freibetrag von z. B. 2 Mio. Euro würde das reichste Prozent, das sind 40.000 Haushalte, betreffen. Ihr Vermögen beträgt bis zu 700 Mrd. Euro und je Prozentpunkt Steuersatz ist rein rechnerisch ein Aufkommen von mehr als 4 Mrd. Euro zu erwarten. Mit dem Aufkommen der Vermögenssteuer kann manifeste Armut völlig zum Verschwinden gebracht, die sozialen Dienste können grundlegend verbessert und die Abgaben auf Arbeit gesenkt werden.

Eine progressive Erbschaftssteuer, deren effektiver Durchschnittssteuersatz nicht unter jenem der Lohnsteuer von 14 Prozent liegt, brächte bei einem jährlichen Erbvolumen von etwa 20 Mrd. Euro und noch ohne allfällige Befreiungen rein rechnerisch ein Aufkommen in Höhe von etwa 2 bis 3 Milliarden Euro. Das Aufkommen der Erbschaftssteuer sollte für den Ausbau von Elementarpädagogik und Tagesbetreuung sowie des Pflegesystems zweckgewidmet werden.

Fortschrittliche Wirtschaftspolitik für ein gutes Leben für alle

Neoliberale und neokonservative Kräfte versuchen, die multiplen Krisen dazu zu nutzen, die Gesellschaft auseinanderzudividieren, indem Beschäftigte gegen Arbeitslose, Junge gegen Alte, Mittelschicht gegen Arme und die Wohnbevölkerung gegen Migrant:innen aufgehetzt werden. Ihr Ziel ist eine Gesellschaft, die durch Vereinzelung und Angst geprägt ist, weil das die Durchsetzung der ökonomischen Interessen der Vermögenden erleichtert.

Fortschrittliche und emanzipatorische Kräfte können dem ein Konzept der Solidarität der 99 Prozent entgegensetzen. Es muss faktenbasiert und ökonomisch vernünftig sein. Es soll die konkreten ersten Schritte, die bereits 2023 möglich sind, ebenso beinhalten wie die darauffolgenden Maßnahmen. Ein Konzept, das die Ängste der Menschen ernst nimmt, mit konkreten Verbesserungen in Sozialstaat und Arbeitswelt die sozialen Untergrenzen festigt und so Hoffnung schafft sowie den enormen Reichtum begrenzt, der bei wenigen konzentriert ist. Dieses Konzept ist von der Überzeugung geprägt, dass ein gutes Leben für alle und eine bessere Welt möglich sind.


Dieser Beitrag wurde am 30.12.2022 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.

Titelbild: Kelly Sikkema auf Unsplash

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