Kinderarmut in elementarpädagogischen Einrichtungen
Von Daniela Gruber-Pruner, Judith Ranftler und Hanna Lichtenberger (A&W-Blog)
In Österreich leben 368.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Armut und Ausgrenzung bedroht. Ein Aufwachsen in Armut hat viele Facetten. Für 243.000 Kinder und Jugendliche bedeutet das, aus finanziellen Gründen nicht auf Urlaub fahren zu können, 408.000 Kinder leben in einem Haushalt, der unvorhergesehene Ausgaben (z.B. kaputte Waschmaschine) nicht stemmen kann. Die betroffenen Kinder sind nicht nur Schulkinder: 23 Prozent der Kinder im Kindergartenalter sind armutsgefährdet. Daraus ergeben sich auch Herausforderungen für elementarpädagogische Einrichtungen.
Kinderarmut ist nicht erst seit der Corona-Krise und den damit verbundenen Einkommensverlusten etwas, das Fachkräfte in vielen elementaren Bildungseinrichtugen Tag ein Tag aus begegnet. Die aktuellen Teuerungen setzen auf dieser Situation auf und spitzen die Herausforderungen zu. Für armutsbetroffene Kinder können elementarpädagogischen Einrichtungen aber ein wichtiger Teil eines Unterstützungsnetzwerks sein.
Kinderfreunde und Volkshilfe haben im Sommer 2022 gemeinsam eine Umfrage dazu durchgeführt. Mehr als 550 Fachkräfte der Elementarpädagogik haben daran teilgenommen. Die Ergebnisse zeigen: Es braucht mehr Ressourcen, um armutsbetroffene Kinder und ihre Familien in den Einrichtungen gezielter zu unterstützen. Und die Antworten aus Praxis zeigen auch drängenden Handlungsbedarf bei der Politik auf.
Informationen statt Annahmen
Grundlage für armutssensibles Handeln im Kindergarten ist ausreichend Informationen über die ökonomische Situation der Eltern zu haben. Denn: Gibt es diese nicht, müssen sich Fachkräfte auf „Indiziensuche“ begeben. Hier werden schnell klassistische Vorurteile reproduziert und es kommt zu Verärgerung über die Eltern. Wenn etwa kein passendes Wechselgewand mitgebracht wird oder Bastelbeiträge nicht bezahlt werden. Objektivere Informationen wären etwa, ob eine Essensbeitragsbefreiung vorliegt oder die Familie andere Zuschüsse/Befreiungen erhält. 48,3 Prozent der Fachkräfte elementarer Bildungsrichtungen sagen in der Umfrage, sie würden eher wenig über die Situation der Familien wissen. 10,4 Prozent geben an, gar nichts zu wissen. 36,1 Prozent fühlen sich ausreichend informiert – eine Zahl, die in Wien höher ist als in ländlichen Regionen. Gefragt danach, wo/wie die Fachkräfte „Kinderarmut“ in elementaren Bildungseinrichtungen am stärksten wahrnehmen, sagen 59,3 Prozent, sie würden es an der Ausstattung der Kinder ablesen. 43 Prozent sagen, dies sei im Kontext der Zahlung des Betreuungsbeitrags bzw. der Kosten für Zusatzangebote bemerkbar. So falle es häufig auf, dass Kinder beim Ausflug abwesend sind. Die Forschung der Volkshilfe zeigt, dass dies nicht immer von den Eltern ausgeht. Schon jüngere Kinder kennen die finanzielle Lage der Familie und sagen, sie hätten keine Lust auf einen Ausflug, um ihren Eltern diese Last abzunehmen.
Mehrwert elementarpädagogischer Einrichtungen
Für die 90,9 Prozent der Befragten besteht der Mehrwert des Besuchs einer elementarpädagogischen Einrichtung für armutsbetroffene Familien im Bildungsangebot unabhängig vom Einkommen der Eltern. Damit unterstreichen die Fachkräfte das Selbstverständnis als Bildungseinrichtung. 77 Prozent beschreiben die Einrichtungen auch als „sichere Orte“ für Kinder und betonen damit die Funktion elementarer Bildungseinrichtungen im Kontext von Gewaltprävention. In der ersten Phase der Corona-Krise, als Schulen und Kindergärten weitgehend nicht besucht wurden, gingen die Gefährdungsmeldungen aus diesem Bereich bei der Kinder- und Jugendhilfe zurück , weil gerade diese Einrichtungen hier eine wichtige Funktion erfüllen – ein Umstand den die Befragten auch als Mehrwert sehen. Weiters genannt werden die Möglichkeit nach individueller Förderung, Kontakt zu Gleichaltrigen und das warme Mittagessen bzw. die Jause. Der Aspekt eines gesundheitsfördernden Frühstücks, eines warmen Mittagsessen und ggf. einer Jause am Nachmittag sind im Kontext von Armutsbekämpfung in Zeiten von steigenden Lebensmittelpreisen besonders aktuell. Gerade am Ende des Monats, die einem armutsbetroffenen Kind in einem Projekt der Volkshilfe auch als „Toastbrot-Zeit“ bezeichnet wird, fehlt Familien das Geld für ausreichende, ausgewogene Ernährung. Pädagog:innen beobachten in diesem Zusammenhang, dass Kinder besonders viel in der Einrichtung essen oder gestresst sind, wenn die Jause am Nachmittag weggeräumt wird.
Kinderarmut als Leerstelle in Aus- und Weiterbildung
34,3 Prozent der Fachkräfte fühlen sich laut Umfrage „Nicht Genügend“ auf die Arbeit mit armutsbetroffenen Kindern und ihren Familien durch die Ausbildung vorbereitet. Weitere 20,4 Prozent vergeben dafür die Schulnote „Genügend“. Daraus ergibt sich auch, dass sich ein knapp Drittel (32,4 Prozent) der Mitarbeiter:innen elementarer Bildungseinrichtungen eher oder sehr unsicher mit einer nicht-diskriminierenden Sprache im Kontext Armut fühlt. 58,7% der Befragten sagen zudem, dass sie bisher keine Möglichkeit hatten, eine Weiterbildung zum Thema Kinderarmut in Anspruch zu nehmen, jedoch Interesse hätten. Nur 11,1% haben ein entsprechendes Angebot gehabt und auch in Anspruch genommen. Wenn Fachkräfte der Elementarpädagogik armutsbetroffenen Kindern in der Praxis gerecht werden sollen, muss das Thema Kinderarmut als Thema in der Aus- und Weiterbildung deutlich stärkere Verankerung finden.
Armutsbetroffenen Kindern und ihren Familien gerecht werden
Nicht erst seit der Corona-Krise ist die Personalsituation in elementarpädagogischen Einrichtungen angespannt. In diesem Kontext sind auch die Antworten auf die Frage danach einzuordnen, was die Fachkräfte bräuchten, um armutsbetroffene Kinder in ihren Einrichtungen noch besser unterstützen zu können. Mehr als zwei Drittel (67,8%) geben an, es brauche einen besseren Personalschlüssel – mehr Zeit für die Förderung der Kinder, für Reflexion im Team, für Elternarbeit. Auch Schulungen und mehr Informationen über konkrete Unterstützungsangebote werden von den Fachkräften genannt. Kinderfreunde und Volkshilfe haben gemeinsam einen Leitfaden dazu entwickelt, wie Kinder- und Familienarmut in elementaren Bildungseinrichtungen begegnet werden kann. Dieser soll ein Stück weit dazu beitragen, Fachkräfte in diesem Bereich in der konkreten Praxis abseits der Notwendigkeit struktureller Veränderungen zu unterstützen.
Teuerung – Druck auf die Einrichtungen steigt
Rund ein Viertel der Befragten gibt in der Umfrage an, im Kindergartenjahr 2021/2022 zumindest einmal erlebt zu haben, dass ein Betreuungsplatz gekündigt werden musste, weil Familien die Beiträge nicht bezahlen konnten. 3,7 Prozent der Respondent:innen haben dies sogar vier Mal oder öfter in diesem Zeitraum mitbekommen, 8,9 Prozent zwei bis drei Mal. Dieser ohnehin relativ hohe Prozentsatz, der in Wien im Vergleich etwas niedriger ist, ist alarmierend. Denn die Effekte der Teuerung sind im laufenden Betreuungsjahr wohl noch stärker zu spüren. Im Sommer 2022 gaben 44,8% der Befragten an, die finanzielle Belastung im Kontext der Teuerung in den Einrichtungen ein wenig zu bemerken. 16% sagen, sie bemerken diese Effekte stark, 23% eher wenig und 10% bemerken keine Veränderung im Kontext der Teuerung.
Was es braucht
Elementare Bildungseinrichtungen, die Effekte von Armut teilweise abfangen, zur Armutsbekämpfung braucht es aber mehr. Gäbe es keine Sozialleistungen, wären in Österreich 594.000 Kinder und Jugendliche armutsgefährdet. Das wäre mehr als jedes dritte Kind in einem der reichsten Länder der EU. Das zeigt, dass Sozialpolitik grundsätzlich eine wichtige Funktion in der Armutsprävention hat und wirkt. Um Kinderarmut zu bekämpfen braucht es Löhne, die Familien tatsächlich absichern und die Erhöhung von Transferleistungen wie dem Arbeitslosengeld oder der Sozialhilfe/Mindestsicherung. Volkshilfe und Kinderfreunde Österreich treten auch für die Einführung einer Kindergrundsicherung ein, die alle Kinder und Jugendlichen abhängig vom Einkommen der Eltern unterstützt. Diese Maßnahme wird von 84,2 Prozent der Respondent:innen unterstützt. Aber auch im Bereich der elementaren Bildung gibt es drängenden Handlungsbedarf: Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, kleinere Gruppen, mehr Zeit für Elternarbeit, kostenlose Mahlzeiten, weniger Schließtage und längere Öffnungszeiten in ganz Österreich und eine Kindergarten-Milliarde zur Finanzierung.
Dieser Beitrag wurde am 07.12.2022 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den NutzerInnen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.
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