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Eine allumfassende menschliche Erfahrung

Eine Abtreibung in den 1960er Jahren – über Scham und Schutzlosigkeit, Mut und die Macht der Literatur. – Sonntag ist Büchertag

Von Hanna Kopp (kritisch-lesen.de)

Buchcover von "Das Ereignis"
Annie Ernaux – Das Ereignis (Suhrkamp)

1963, Rouen im Norden Frankreichs: Die 23-jährige Studentin Annie wird schwanger. Schon als sie die Bescheinigung des Arztes zerreißt, ist ihr klar: Das Kind behalten will sie nicht. Abtreibungen sind in Frankreich allerdings noch bis ins Jahr 1975 per Gesetz verboten.

60 Jahre liegt das Ereignis also zurück, das die französische Autorin Annie Ernaux in ihrer gleichnamigen autobiografischen Erzählung rekonstruiert: ihre ungewollte Schwangerschaft und der Gang in die Illegalität, um abzutreiben. Die Herablassung, mit der man ihr begegnet, ihre Hilflosigkeit und Scham sind jedoch immer noch aktuell. Nicht zuletzt ein Blick in die USA zeigt, was Grünen-Politikerin Ricarda Lang kurz nach der massiven Einschränkung des dortigen Abtreibungsrechts im Juni dieses Jahres twitterte: „Frauenrechte sind nie in Stein gemeißelt. Sie müssen immer wieder aufs Neue erkämpft werden.“

Eine drängende Lektüre

Mit dieser historischen Zäsur im Kopf wird „Das Ereignis“ zu einer bitteren Lektüre – und einer drängenden. Denn sie zwingt hinzuschauen, was passiert, wenn Frauen das Recht verwehrt wird, selbst über ihre Körper zu bestimmen. Neben ihrer sozialen Herkunft aus dem Arbeiter:innenmilieu spielt in Ernauxs Werken der weibliche Körper immer wieder eine tragende Rolle – vor allem, wenn die Autorin auf die autobiographischen Verschränkungen von Privatem und Politischen, Intimem und Sozialen blickt. Aus feministischer Perspektive wundert das nicht, denn patriarchale Gewalt, staatliche Zugriffe und gesellschaftliche Erwartungen treffen und betreffen häufig als erstes die Selbstbestimmung und Unversehrtheit des eigenen Körpers.

Hatte die junge Annie bisher nicht das Gefühl, ihr Körper unterscheide sich in der Liebe und Lust grundsätzlich von dem eines Mannes, wird sie nun von der „Gewalt der Fortpflanzung“ (S. 101) eingeholt. Die plötzliche Veränderung ihres körperlichen Zustands durchschneidet ihre Realität und isoliert sie sozial: „Ich lebte nicht mehr in derselben Welt. Es gab die anderen Mädchen mit ihren leeren Bäuchen und mich.“ (S. 25) Ihre Verbindung zum studentischen Umfeld scheint gekappt, der Vater des Kindes reagiert mit Desinteresse auf die Schwangerschaft, die Ärzte, die sie um Hilfe bittet, wollen sie aus Angst vor einem Berufsverbot oder aus moralischen Gründen so schnell wie möglich loswerden – sogar als sie versucht, den Eingriff selbst vorzunehmen: „Im Vergleich zu einer zerstörten Karriere wog eine Stricknadel in der Vagina nicht schwer.“ (S. 38) Auch praktische Informationen darüber, wie eine Abtreibung abläuft, sind nicht auffindbar – überall scheint der Vorgang eine Leerstelle zu sein.

Zwischen Literatur, Soziologie und Geschichte

Angetrieben wird die Autorin von einer erzählerischen Pflicht:

„Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.“ (S. 48)

Distanziert, fast berichtartig erzählt sie aus Sicht ihres jüngeren Ichs von der Ausweglosigkeit ihrer Situation. Für Ernaux, die ihr Schreiben einmal als etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichte bezeichnete, wird das damalige Ich zum Forschungsgegenstand und sie zur Ethnologin ihrer selbst. Zur Überprüfung der Tatsachen zieht sie ihr altes Tagebuch und einen Kalender zurate. Ihr Ziel: Das unvergessliche Ereignis in seiner ganzen Realität darzustellen – so unverfälscht und detailreich wie möglich. Sie will in jedes einzelne Bild eintauchen, „bis mir Worte einfallen, von denen ich sagen kann, ‚das ist es.‘“ (S. 21) Durch diese sprachliche Präzision und den verknappten Umfang entwickelt der Text eine ungeheure Wucht.

Annie ist schließlich im dritten Monat schwanger, als eine Kommilitonin, die ebenfalls abgetrieben hat, ihr die Adresse einer sogenannten Engelmacherin in Paris weitergibt. Dreimal besucht sie Madame P.-R., eine ältere Krankenschwester, die illegal in ihrer einfachen Wohnung Abtreibungen durchführt. Zweimal führt sie Annie unter starken Schmerzen eine Sonde ein, die kurze Zeit später Wehen auslöst:

„Ich drückte mit aller Kraft. Es schoss aus mir heraus wie eine Granate, das Fruchtwasser spritzte bis zur Tür. Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug.“ (S. 82)

Diese Szenen von Leben und Tod, wie Ernaux sie nennt, beschreibt die Autorin in seiner Drastik und Rohheit, ohne jeglichen Dekor. So bleibt sie ganz ihrer Erfahrung treu und lässt sich von keiner Scham zensieren. Lediglich eine ihrer Kommilitoninnen steht Annie in diesem Moment bei, schneidet die Nabelschnur durch – und muss schließlich einen Arzt zu Hilfe rufen, da Annie fast verblutet. In diesem zweiten Teil der Nacht, in der sie ins Krankenhaus eingewiesen wird, dominieren nun „Zurschaustellung und Verurteilung“ (S. 84), die in der Aussage des jungen Chirurgen gipfeln, der Annie kurz vor ihrer Ausschabung entgegenbrüllt, er sei hier nicht der Klempner.

Literarische Sinnsuche

Immer wieder durchbrechen reflexive Passagen Ernauxs Darstellung der Vergangenheit, in denen Ernaux ihre Erfahrungen sozial kontextualisiert: Was geschieht ihr, weil sie den Körper einer Frau hat? Und wie verbindet sie ihre Schwangerschaft mit ihrer sozialen Herkunft?

„Doch weder das Abitur noch ein erster Universitätsabschluss in Literatur konnten die unvermeidliche Weitergabe der Armut verhindern, deren Symbol die unverheiratete Schwangere war, im selben Maße wie der Alkoholiker. […] Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt, und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs.“ (S. 26f.)

Als erste Studierende ihrer Familie ist die Angst, mit einem Kind und ohne Fortführung ihres Studiums ihre Intellektualität zu verlieren, den sozialen Aufstieg nicht zu schaffen, groß.

„Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte“, schließt Ernaux ihren Text und kann ihrer traumatischen Erfahrung durch die Literarisierung einen Sinn abgewinnen. Die Erzählung dieser „allumfassenden menschlichen Erfahrung“ (S. 101) wirkt fort und bleibt relevant – gerade mit Blick auf die aktuellen Kämpfe um Abtreibungsrechte. Denn Ernauxs Erzählung zeigt drastisch, wie diese Einschränkung der körperlichen Selbstbestimmung eine junge Frau psychisch zermürben kann, sie isoliert und in Todesgefahr bringt. So deutlich im Text jedoch eine politische Lesart der Ereignisse angelegt ist, so klar wird auch Ernauxs Vorsicht um eine aktivistische Instrumentalisierung ihrer Erfahrung. Ihre scharfe Analyse von Machtstrukturen rund um Geschlecht und soziale Herkunft entspringt ihrer eigenen Geschichte und dieser gilt auch ihre erzählerische Pflicht. Daraus entsteht ein Text von großem literarischen Wert, der aus sich heraus politisch ist.


Annie Ernaux – Das Ereignis. Übersetzt von: Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, 2021 – 104 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-518-22525-7

Dieser Beitrag wurde am 11.10.2022 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

Titelbild: Buchcover/Unsplash

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