Chile: Rechte blockiert neuen Verfassungsprozess
Mit inhaltlichen Forderungen rund um Plurinationalität und private Daseinsvorsorge stellt sich die rechte Parteienkonstellation Chile Vamos im Prozess für eine neue Verfassung quer.
Von Aldo Anfossi (La Jornada/NPLA)
Einen Monat und eine Woche nach der klaren Entscheidung gegen den neuen Verfassungsentwurf sind in Chile die Möglichkeiten zur Wiederbelebung des verfassungsgebenden Prozesses weiterhin an den Willen der politischen Rechten gebunden. So stellt die Parteikoalition Chile Vamos bereits jetzt inhaltliche Voraussetzungen und verlangsamt konkrete Mechanismen.
Der rechte Flügel hat in Chile derzeit eine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und im Senat. Um den Weg zu einer neuen Verfassung wieder aufzunehmen, müssen beide Kammern des Parlaments jedoch mit mindestens vier Siebteln einer Verfassungsreform zustimmen. Kein politisches Lager kann diese Mindestzahl an Abgeordneten (88) bzw. Senator*innen (28) allein stemmen – eine Verhandlung mit anderen Parteien ist also nötig.
Wichtigste Themen: Indigene Rechte, Wasserprivatisierung und Privatisierung der Daseinsvorsorge
Zu den politischen Akteur*innen, die einen neuen Verfassungsprozess derzeit verlangsamen, gehört die rechte Parteienkoalition Chile Vamos, die den neoliberalen Kern des gegenwärtigen Systems in Chile erhalten will. Dazu gehört die Rolle des Staates bei der Subventionierung sozialer Dienstleistungen in Gebieten, die für den privaten Sektor unattraktiv oder unrentabel sind. Für einen neuen verfassunggebenden Prozess besteht Chile Vamos auf „Prinzipien“, die für eine eventuelle verfassungsgebende Versammlung jedoch kaum zu erfüllen sein werden.
Diese „Prinzipien“ betreffen im Wesentlichen drei Punkte. Erstens: Chile sei kein plurinationaler Staat, wie es noch in dem im September im Referendum gescheiterten Text definiert wurde, sondern ein einziger Einheitsstaat, der sich aus verschiedenen Kulturen zusammensetzt. Zweitens: Während die linke Mitte darauf besteht, einen sozialen und demokratischen Rechtsstaat zu erklären, besteht Chile Vamos darauf, das Eigentum an Wasser für Privatpersonen zu garantieren. Drittens besteht die Koalition darauf, die Wahlfreiheit zwischen privaten und öffentlichen Leistungen in den Bereichen Daseinsvorsorge, Bildung und Gesundheit zu erhalten.
Konfliktfragen statt Anstoß für einen neuen verfassunggebenden Prozess
Währenddessen lässt der rechte Flügel nicht verlauten, wie ein neuer verfassunggebender Prozess ihrer Meinung nach aussehen sollte – etwa, welches Gremium eine neue Verfassung mit welchen Befugnissen ausarbeiten sollte. Auch ist unklar, aus welchen Personen ein neues verfassunggebendes Organ zusammengesetzt sein und wie dieses gewählt werden soll. Die Rechte sieht sich lediglich damit einverstanden, dass auch der neue Verfassungsentwurf geschlechterparitätisch ausgearbeitet werden soll, auch indigenen Gemeinschaften sollen proportional vertreten sein – jedoch in keinem Fall überrepräsentiert.
Javier Macaya, Parteivorsitzender der rechtskonservativen Partei UDI, formulierte seine Einschätzung der Lage folgendermaßen: „Wir glauben, dass das Experiment der Neugründung des Verfassungskonvents unter anderem deshalb gescheitert ist, weil es keine Wahlmöglichkeit oder eine gemischte Regelung der sozialen Rechte gab. Soziale Rechte werden nicht nur durch das staatliche Monopol gewährleistet, (und) sie sind nicht unvereinbar mit der Beteiligung der Zivilgesellschaft an ihrer Bereitstellung, das ist die grundlegende Diskussion“, sagte er.
Spiel gegen die Zeit
Die Vorsitzende der Regierungspartei PS, Paulina Vodánovic, entgegnete: „Der rechte Flügel kehrt zu den Randfragen zurück und äußert sich nicht zum Prozess“ (wer, wie und mit welchen Befugnissen die neue Verfassung ausarbeiten würde); sie geben vor, den Bürgern Ruhe zu geben, aber in Wirklichkeit bringen sie nur bestimmten Akteuren wie den privaten Pensionsfondsverwaltern Ruhe“ (…).
Einigen müssten sich die politischen Parteien in jedem Fall bald. Sonst laufen sie Gefahr, dass die Wahl der Vertreter*innen für das verfassunggebende Gremium mit der Wahl der Bürgermeister*innen und Gemeinderät*innen im Oktober 2023 kollidiert. Damit dies nicht geschieht, sollten die Grundlagen und der Aufruf zur Wahl zum Verfassungsorgan vor Ende dieses Jahres erfolgen, damit der chilenische Wahldienst (Servel) die Wahl spätestens im April nächsten Jahres durchführen kann. Die Entwicklung des verfassunggebenden Prozesses bleibt demnach ebenso wie sein Ausgang ungewiss.
Dieser Beitrag erschien am 11.10.022 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. Originalartikel: lajornada.com
Titelbild: Kampagnenabschluss der Gegner*innen des Verfassungsentwurfs im September. Foto: Prachatai via Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)