Brasilien: Überraschender Erfolg für Bolsonaro. Analyse und Ausblick
Ein Gespräch mit Andreas Behn, dem Leiter des Regionalbüros der Rosa Luxemburg Stiftung für Brasilien und Paraguay, über die Wahl in Brasilien.
Von Markus Plate (NPLA)
Nach den Wahlen am 2. Oktober geht das Duell zwischen Präsident Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Lula in eine zweite Runde. Brasilien geht am 30. Oktober in die Stichwahl. Das Ergebnis ist offener als vorher gedacht: Lula kam zwar auf über 48 Prozent der Stimmen, aber Bolsonaro hat deutlich stärker abgeschnitten, als es ihm die Umfragen prophezeit haben. Darüber sprechen wir mit Andreas Behn, Leiter des Regionalbüros für Brasilien und Paraguay der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.
Andreas, wie reagieren denn die Brasilianerinnen und Brasilianer darauf?
Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Das liegt vor allem an der Polarisierung hier in Brasilien, die jetzt durch dieses Wahlergebnis nochmal bestätigt wurde. Auf Seiten der Anhänger und Anhängerinnen Bolsonaros sind die Reaktionen auf alle Fälle positiv. Das ist ja auch daran zu spüren, dass sie das Wahlergebnis sehr gerne angenommen haben, obwohl sie vorher ja das ganze Wahlsystem so stark kritisiert haben und immer von Wahlbetrug sprachen. Auf der Seite derjenigen, die Lula unterstützen, da ist eher eine gewisse Trauerstimmung. Zwar hat Lula eindeutig diesen ersten Wahlgang gewonnen. Aber einerseits hat es nicht geklappt, im ersten Wahlgang schon zu gewinnen, und dann ist der Abstand zu Bolsonaro viel geringer als in den Umfragen vorhergesagt. Und auch die Hoffnung, dass Bolsonaro diese Wahl auch im Kongress und auf Gouverneurs-Ebene verliert, diese Hoffnung hat sich nicht bestätigt. Das bedeutet: Auch wenn Lula gewinnen sollte, würde es für ihn ausgesprochen schwer, in diesem Land eine andere Politik durchzusetzen, als es in den letzten vier Jahren der Fall gewesen ist.
Wie bewertest Du das Ergebnis der ersten Runde? Für wen sieht es besser aus, für Lula oder Bolsonaro?
48,5 Prozent für Lula, das ist eine gute Ausgangsbasis für ihn. Dann hatten wir noch zwei weitere Kandidat*innen, die zwischen drei und fünf Prozent bekommen haben, und es ist davon auszugehen, dass mindestens ein Drittel ihrer Anhänger dann wahrscheinlich in der Stichwahl zu Lula wandern werden. Das würde ja schon reichen für Lula. Auf der anderen Seite sieht das auch nicht schlecht aus für Bolsonaro! Dieses Wahlergebnis hat ihm und seiner ganzen Bewegung noch mal richtig Schwung verliehen. Vorher gingen viele davon aus, Lula habe insbesondere den zweiten Wahlgang relativ sicher in der Tasche. Das würde ich jetzt nicht mehr so sagen. Es wird wirklich einen Kopf-an-Kopf-Rennen, und es ist sehr schwierig zu sagen, wer dann am Ende wirklich gewinnt.
Was könnte in den Wochen vor der zweiten Runde passieren? Bolsonaro hatte ja schon im Vorfeld von drohendem Wahlbetrug gesprochen, viele befürchten, er könnte einen Staatsstreich organisieren wollen. Wie wahrscheinlich oder wie bedrohlich ist das eigentlich?
Ich würde sagen, da hat sich ein bisschen was verschoben, dadurch, dass Bolsonaro überraschend gut abgeschnitten hat. So war dann die Reaktion seines Lagers nach der Wahl: „Das war ja eigentlich alle schon ganz okay, und wir gehen jetzt motiviert in den zweiten Wahlgang“. Eigentlich kann man das so zusammenfassen, dass das Wahlergebnis und damit auch das Wahlsystem von der Bolsonaro-Seite de facto anerkannt wurde. Das senkt erstmal die Befürchtungen, in der zweiten Runde könnte es zu dramatischen Szenen kommen. Aber wissen tun wir es trotzdem nicht, denn wenn er dann verlieren sollte, ist es durchaus möglich, dass er ein solches Ergebnis dann doch nicht akzeptiert, dass seine Anhänger dann doch auf die Straße gehen und Unruhen provozieren. Aber die Gefahr ist ein bisschen geringer geworden.
Es wurden ja auch der Kongress, die Gouverneure und Landesparlamente gewählt. Vielleicht erstmal zum Nationalkongress: Eine neue Regierung benötigt ja eine Parlamentsmehrheit, um Gesetze, Projekte und Haushalt durchzubringen. In der Abgeordnetenkammer haben wir aber wohl ein gutes Dutzend Parteien. Wie wertest Du diese Ergebnis, und was bedeutet das für den nächsten Präsidenten Brasiliens, vor allem für den U-Turn, den Lula verspricht?
Ja, das ist eine sehr wichtige Frage. Insgesamt hat es zwar keine Überraschungen auf Ebene der Gouverneurswahlen und beim Kongress gegeben, aber es ist eine Tendenz sichtbar. Und das ist vor allen Dingen, dass die Parteien, die zur Regierungskoalition von Bolsonaro gehören, gestärkt wurden. Im Senat konnte die Bolsonaro-Partei ihre Senatssitze fast verdoppeln. Insbesondere in der Abgeordnetenkammer konnten auch die linken Parteien, also auch das PT-Wahlbündnis und auch die Linke per se zulegen. Das heißt, wir haben Gewinne auf der rechtsextremen Seite und in geringerem Umfang Zugewinne auf der linken Seite. Die Verluste sind vor allen Dingen in der Mitte, bei den traditionellen, aber doch demokratisch orientierten Rechtsparteien. Das bedeutet, die Polarisierung, die auch vorher schon vorhanden war, die ist mit dem Wahlergebnis eindeutig stärker geworden. Wenn Lula die Stichwahl am Ende gewinnt, ist er auf alle Fälle in einer Minderheitenposition, sowohl im Senat wie im Parlament. Und das heißt, es wird ausgesprochen schwierig, die Dinge nach Bolsonaro wieder einigermaßen ins Lot zu bringen, insbesondere im Bereich Umweltpolitik, Sozialpolitik, Arbeitsrechte und auch in der Bildungspolitik.
Da bleibt natürlich die Frage: Nach vier skandalösen Bolsonaro-Jahren, Skandalen, der Untätigkeit in der Corona-Pandemie, den Rückschritten in der Umwelt-, Sozial- und Bildungspolitikpolitik, wie ist es denn möglich, das dieser Bolsonaro nicht nur respektabel abgeschnitten hat, sondern das ihn so viele Menschen immer noch als Präsident haben wollen?
Vielleicht kann man das so zusammenfassen: Einerseits ist Bolsonaro jetzt kein repressiv, autoritär Regierender, wie das zu Zeiten der Militärdiktatur der Fall gewesen ist. Sondern er benutzt all‘ die Instrumente der Rechtspopulisten, wie wir das auch in Polen und Ungarn und in vielen anderen Ländern sehen. Und das kommt bei einem relativ großen Teil der Bevölkerung gut an. Er hat ähnlich wie Lula ein volksnahen, populären Diskurs, nicht abgehoben, wie die Politiker, die früher das Sagen hatten. Und dann hat Bolsonaro die Fake News auf seiner Seite. In den Zeiten der sozialen Netzwerke funktioniert das einfach sehr gut und führt dazu, dass wir eigentlich zwei Welten haben: die alte Welt mit linken Kräften und denjenigen rechten Kräften, die noch dem demokratischen Spektrum zugeordnet werden können. Die stehen alle gemeinsam gegen Bolsonaro. Und auf der anderen Seite eben Bolsonaro und diese Art von Politik, wie er sie betreibt und wie er sie vermittelt. Das hat sich etabliert, und das ist fast die wichtigste Nachricht dieser Wahlen. Das wird nicht verschwinden. Das rechtspopulistische Lager wird weiterhin auf der Straße präsent sein, wird weiterhin gegen Abtreibung und gegen Frauenrechte kämpfen. Eine Politik, die sich an christlich-evangelikalem Lobbying orientiert. Das ist eben das, was ich mit Polarisierung bezeichne, und das hinterlässt ein gespaltenes Land. Und das ist keine gute Nachricht für die Zukunft.
Dieser Beitrag erschien am 04.10.022 auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Titelbild: Isac Nóbrega/PR via Palácio do Planalto auf Flickr / CC BY 2.0