Es geht nicht nur um die Ukraine – es geht um alles
Ein Gastkommentar von Alexander Koppensteiner
Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass die Menschheit aufgrund der sich in vollem Gang befindlichen Klimakatastrophe vor einer dramatischen Situation steht und nur mehr ein schmales Zeitfenster besteht, um die Erderhitzung auf unter zwei Grad zu begrenzen. Wird die Zwei-Grad-Marke erreicht oder steigt die Temperatur gar darüber hinaus, so werden vermutlich Kipppunkte überschritten, die zu einer weiteren Erhitzung und in weiterer Folge zu Konsequenzen führen, die für die organisierte menschliche Gesellschaft nicht mehr handhabbar sein werden.
Vermutlich sind die heute maßgeblichen Entscheidungsträger von den schlimmsten Auswirkungen nicht mehr selbst betroffen, aber ihre Kinder und Kindeskinder, die heute schon geboren sind, werden es sein. „Ich will, dass Ihr in Panik geratet!“. Der Appell der großen Greta Thunberg, den sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmerinnen 2019 am Weltwirtschaftsforum in Davos entgegen geschleudert hat, ist nicht übertrieben, er trifft den Kern.
Wenn man nun die hektischen Diskussionen über das Herunterdrehen der Heizungen, über die Verteilung von beschränkten Mengen Erdgases und über den Ausstieg aus der Fossilwirtschaft verfolgt, könnte man meinen, der Ernst der Lage wäre nun bewusst geworden.
Leider ist das Gegenteil der Fall. Nicht der drohende Klimakollaps motiviert die Mächtigen zum Umdenken, sondern das drohende Ausbleiben des russischen Gases. Diese Befürchtung resultiert aus den Sanktionspolitik der EU im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Überspitzt könnte man sagen, die Bestrafung Russland war und ist für die führenden Politikerinnen und Politiker in der EU ein viel motivierenderes Ziel, als die Abwendung der alles zerstörenden Klimakatastrophe. Dieses Ziel ist so wichtig, dass man sich sogar zu Maßnahmen bekennt, die dem Ziel des Klimaschutzes diametral entgegenstehen. Der Ersatz von russischem Erdgas durch Flüssiggas, das mit riesigen Tankschiffen über die Ozeane transportiert wird, der Bau von entsprechenden Terminals, die Erschließung neuer Gasfelder im Mittelmeer und erst recht die Rückkehr zur Kohleverstromung, all das entfernt uns immer weiter von den ohnehin nur mehr sehr schwer erreichbaren Zielen.
Um es ganz klar zu sagen, nichts kann einen Angriffskrieg entschuldigen oder verharmlosen. Jeder, der einen Krieg beginnt, begeht damit ein Verbrechen.
Das heißt aber nicht, dass bei den Reaktionen, die sich daraus ableiten lassen, kein Spielraum besteht. Es gibt keine moralische Verpflichtung, mit einem Land, dessen Führung einen solchen Krieg begonnen hat, in einen Wirtschaftskrieg einzutreten. Ganz offenkundig ist das auch nicht üblich, denn weder während des Vietnamkrieges noch beim völkerrechtswidrigen Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak im Jahr 2003 wurde in Europa über eine wirtschaftliche Isolierung der USA gesprochen. Ein solcher Gedanke mutet geradezu eigenartig an. Natürlich kann man einwenden, dass die USA viel zu stark wären, um sanktioniert zu werden, das ist allerdings kein moralisches Argument. Oder man kann einwenden, dass sie ein Verbündeter sind, jedenfalls aus Sicht der NATO-Mitglieder in Europa. Aber auch dieser Einwand ist moralisch nicht begründbar, denn wenn ein Staat das Verbrechen der Aggression begeht, dann muss es unerheblich sein, ob man mit ihm verbündet ist oder nicht.
Die Sanktionen sind schädlich. Sie belasten unschuldige, einfache Menschen, in Russland aber auch in Europa. Sie können den Krieg nicht beenden, aber sie schüren den Hass unter den Völkern. Sie machen einen Dialog mit Russland nahezu unmöglich, genau dieser Dialog ist aber notwendig. Nicht nur, um zu einem Ende des Krieges in der Ukraine zu kommen soll, sondern vor allem in Hinblick auf die globale Bedrohung, vor der wir stehen.
Wie wollen wir es schaffen, mit dieser Bedrohung fertig zu werden in einer Situation der maximalen Konfrontation und Gesprächsverweigerung? Wie wollen wir es schaffen, aus den fossilen Energieträgern auszusteigen, wenn es offensichtlich mit der fossilen Supermacht Russland keine Zusammenarbeit geben soll, die auch für sie eine solche Transformation vorstellbar machen könnte?
Wie wollen wir davonkommen, wenn sich der Westen in einer unbegründeten Überheblichkeit gegen den Rest der Welt stellt und auch China in erster Linie als Rivalen und nicht als notwendigen Partner sieht? Ein neuer Rüstungswahnsinn nimmt Fahrt auf, und die Mittel, die man für die ökologische Transformation nur zögerlich und unzureichend aufzubringen bereit war, werden nun mit Enthusiasmus der Rüstungsindustrie in den Rachen geworfen, eine Industrie, die im Übrigen auch unter dem ökologischen Gesichtspunkt eine schmutzige ist.
Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: das Geld, das für die Rettung des Planeten fehlte, existiert im Überfluss, wenn es um seine Zerstörung geht.
Russland hat einen Angriffskrieg begonnen, das ist ein Verbrechen und nicht zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Das entbindet aber nicht von der Verpflichtung da ganze Bild zu sehen. Im Gegensatz zum Krieg verdienen bestimmte Argumente Russland, die im Vorfeld vorgebracht wurden, durchaus Beachtung und Verständnis. Sie können auch jetzt nicht außer Acht gelassen werden, wenn es um ein Ende des Krieges geht.
Die zahlreichen völkerrechtswidrigen Kriege der USA und anderer NATO-Staaten können ebenso nicht vom Tisch gewischt werden wie das Vorrücken der NATO an die Grenzen Russland, das in einer umgekehrten Konstellation niemals akzeptiert worden wäre.
Ein beliebtes Narrativ ist, dass Russland nicht verhandeln wolle, und dass man es so sehr schwächen müsse, dass es letztlich gar nicht anders könne. Implizit – und teilweise auch explizit – ist damit gemeint, Russland militärisch völlig aus der Ukraine zu vertreiben und so zu schwächen, dass es auch künftig für niemanden mehr eine Bedrohung darstellen wird können. De facto ist dies aber die Umschreibung dafür, dass der Westen – angeführt von den USA – keinen Verhandlungsfrieden sondern einen Siegfrieden möchte.
Dieser Ansatz ist aberwitzig. Realpolitisch ist es doch völlig klar, dass Russland alles dafür tun wird, ein solches Ergebnis zu vermeiden. Würde dieses – durch westliche Waffenlieferungen – einzutreten drohen, wird Russland den Krieg weiter eskalieren, wozu es die Möglichkeiten hat. Dies beinhaltet wiederum die Gefahr, dass – besonders in den USA – der Druck in Richtung eines direkten Eingreifens größer wird und dieses womöglich erfolgt. Russland wiederum würde dann – im Angesicht einer Niederlage, die ihm dann zweifellos drohen würde – wohl versucht sein, auf seine „Abschreckungswaffen“ zurückzugreifen, von denen aber auch die NATO bekanntlich genügend besitzt. In den USA ist es bislang das Pentagon, dass sich erfolgreich gegen die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine ausspricht, weil die Militärexperten dort wissen, was daraus resultieren würde. Auf der anderen Seite gibt es aber z. B. im US-Kongress nicht wenige wichtige Stimmen, die für eine solche eintreten, und es ist alles andere als gewiss, dass es bei einer Fortdauer oder Eskalation des Krieges nicht doch soweit kommt. Die Fortsetzung des Krieges stellt also eine erhebliche Gefahr des Eintritts von etwas dar, für dessen Schrecklichkeit uns wohl die Vorstellungskraft fehlt. Aber auch wenn wir annehmen, dass das Schlimmste nicht einritt, so bedeutet die kompromisslose Fortführung der gegenwärtigen Politik, deren Ziel es ist, Russland als Aggressor die maximalen Kosten aufzuerlegen, dass auch die Ukraine einen gigantischen Preis an Menschenleben und Zerstörung zu bezahlen haben wird, vielleicht noch wesentlich mehr, als es bisher schon der Fall war. Dies jedoch ohne eine realistische Chance, Russland gänzlich aus der Ukraine zu vertreiben.
Kriege enden immer mit Verhandlungen oder mit der Niederlage einer Kriegspartei. Dieser Krieg ist auch für Russland mit enormen Verlusten und menschlichen wie materiellen Kosten verbunden, sodass der Wunsch nach einem Ausstiegsszenario durchaus nicht unplausibel ist. Eine Niederlage im klassischen Sinne – die Ukraine vertreibt die russische Armee vom Gebiet der Ukraine, Russland sieht seine Niederlage ein und beendet die Angriffe auf die Ukraine – ist aber völlig unrealistisch, und wer der Ukraine diese Karotte vor die Nase hängt, macht sich mitschuldig am Leid, das die Fortsetzung des Krieges bedeutet.
Wie gesagt, die Ukraine ist jedenfalls das Opfer, wenn es nicht gelingt den Krieg durch einen Verhandlungsfrieden beenden. Sie wird aber nicht da einzige sein. Der Rückfall der Welt in eine völlige Polarisierung und waffenstarrende Feindseligkeit zerstört jede Chance, die drohende Klimakatastrophe durch ein internationales und solidarisches Zusammenwirken doch noch soweit abzumildern, dass organisiertes menschlichen Leben möglich bleibt. Dieses Szenario könnte in seinem Horror dann nur mehr übertroffen werden vom Ausbruch der finalen nuklearen Auseinandersetzung, dessen Wahrscheinlichkeit so groß ist, wie vielleicht niemals zuvor.
Wollen wir dies alles in Kauf nehmen, nur um einen Schritt zu vermeiden, nämlich Putin zu fragen, ob er im Gegenzug für das Angebot einer internationalen hochrangig besetzten Friedenskonferenz, bei der alle Fragen in Zusammenhang mit der Ukraine besprochen werden können, zu einem Waffenstillstand bereit ist?
Alexander Koppensteiner ist Politikwissenschafter, lebt in Wien und ist in der Sozialversicherung tätig.
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Titelbild: Daria Volkova auf Unsplash
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