Alles beim Alten
Virenregime – Wie die Coronakrise unsere Welt verändert: Der Kapitalismus hat kein Problem mit der Corona-Pandemie. Die Anthologie untersucht die Folgen der Krise – regional, europaweit, global. – Sonntag ist Büchertag
Von Cornelia Stahl (kritisch-lesen.de)
Wer hätte 2020 bei Erscheinen des Buches gedacht, dass wir uns zwei Jahre später, 2022, noch immer mit Corona beschäftigen müssen! Doch die Blickrichtungen haben ihren Radius erweitert: Mit „Pandemie sei Dank!“, das zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2022 ausgezeichnet wurde, hat die Wiener Wissenschaftshistorikerin Daniela Angetter-Pfeiffer beispielsweise eine erhellende Geschichte der sozial innovativen Nebenwirkungen von Seuchen und Infektionskrankheiten vorgelegt. Darin erzählt sie von progressiven Maßnahmen auf dem Gebiet der Hygiene (…Händewaschen ist nicht selbstverständlich, bewirkt jedoch Wunder!), der Medizin, der Branntweinerzeugung und des Bierbrauens. Dass pandemiegeplagte Menschen im 14. Jahrhundert Mundschutztücher mit Essig oder noch lieber mit Aquavit benetzten, wie Pfeiffer schreibt, scheint als wirkungsvolle Maßnahme in Vergessenheit geraten zu sein.
Während heute die einen beim Krügerl Bier (oder Wein) das Ende der Pandemie herbeisehnen, geraten Menschen des globalen Südens in Bedrängnis, da Impfstoffe ungleich verteilt sind und Patente nicht freigegeben werden.
Breitbandmix der Negativfolgen
Die beiden Österreicher Thomas Schmiedinger und Josef Weidenholzer haben es sich auf die Fahnen geschrieben, dem aktuellen Thema der Pandemie eine Plattform der Auseinandersetzung zu bieten und starteten eine Ausschreibung für die Anthologie „Virenregime“. Mehr als 50 Autoren und Autorinnen folgten dem Aufruf und sind nun mit einem speziellen Blickwinkel auf das Thema Covid 19 vertreten. Den Fokus legt die vorliegende Anthologie auf die jeweils negativen Auswirkungen der Pandemie. Diese nimmt der Titel „Virenregime“ vorweg. In Europa wie auch weltweit hat die Situation der Pandemie bestehende Ungleichheiten zementiert und verstärkt bzw. zu weiteren Verwerfungen geführt. Wirtschaftliche und politische Schwachstellen traten ans Licht der Öffentlichkeit, konnten nicht mehr verschwiegen und banalisiert werden. Am deutlichsten wurden die Bruchstellen im Bereich der Pflege. Das Thema „Pflegenotstand“ bekam eine neue Dringlichkeit. Länder wie Russland hatten mit weitaus größeren „Baustellen“ zu kämpfen, wie Jutta Sommerbauer zu berichten weiß: „Der 145 Millionen Einwohner zählende Staat nahm im Frühling 2020 mehrere Wochen den zweiten Platz in der internationalen Fall-Statistik hinter den USA ein.“ (S. 188) Erst am 24. März 2020 wandte sich Wladimir Putin in Moskau erstmals an seine Bevölkerung und versprach Hilfe und Extraboni für Krankenhauspersonal. Sommerbauer betont: „der Kreml hatte andere Prioritäten als die Bekämpfung des Virus“ (S. 190). Das Vogel-Strauß-Verhalten Putins verhinderte die rechtzeitige Eindämmung des Virus und das zeitgerechte Setzen von Maßnahmen. Parallel zur Coronakrise wurden die Daumenschrauben hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit enger gezogen.
Von den negativen Auswirkungen der Pandemie weiß auch der Ökonom Walter O. Ötsch in seinem Artikel „Ist der Neoliberalismus am Ende?“ zu berichten, der in seinem Text auf den in den 1920er Jahren positiv konnotierten Begriff eingeht und seine Entwicklung bis hin zur Gegenwart nachzeichnet. Einen Hinweis auf das Ende des Neoliberalismus lieferte bereits die Weltwirtschaftskrise von 2008: „Ökonomen und Ökonominnen waren erstaunt, dass eine Situation eingetreten ist, die in ihren Modellen nicht vorgesehen war, Politikerinnen und Politiker schoben schnell die Rhetorik des ‚Marktes‘ zur Seite.“ (S. 357) Am Ende seines Beitrages macht Ötsch auf die negativen Folgen der Pandemie aufmerksam und konstatiert: „Ende Juni 2020 prognostizierte der IWF, Internationale Währungsfonds, ein Schrumpfen der globalen Wirtschaft um 4,9%.“ (S. 352)
Aus den vielstimmigen Beiträgen geht eines deutlich hervor: Der Kapitalismus profitiert selbst in Krisenzeiten, findet aber keine Antwort für das Wohl aller Menschen. Mehr noch, es sind gerade krisenhafte Dynamiken, die dem Kapitalismus auf die Sprünge helfen. Wachstum und Profit setzt Ausbeutung von Mensch und Natur voraus.
Der Spiegel der Pandemie
Die Pandemie hält uns den Spiegel vor. Permanente Überproduktion war und ist nicht förderlich, weder für Mensch noch für die Natur. Die Coronakrise hat die finanzielle und somit die soziale Ungleichheit verstärkt. Das im Buch angeführte Beispiel der Unterstützungsmaßnahmen für Künstler*innen in Österreich zeigt, dass sich selbst die neun Bundesländer nicht auf einheitliche Schritte einigen konnten und finanziell ungleiche Maßnahmen gewährten.
Der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger und der Linzer Soziologe Josef Weidenholzer haben mit „Virenregime“ einen vielstimmigen Zwischenstandsbericht zur Coronakrise vorgelegt, der von den weltweiten Folgen der Krise erzählt und Forderungen zu deren Bekämpfung bereithält. Ein kompaktes Werk, welches einen weltweiten Ausnahmezustand dokumentiert, gleichzeitig den Finger auf angrenzende Wundflächen legt: die Klima- und Flüchtlingskrise.
Zusätzlich verwendete Literatur
Angetterer-Pfeiffer, Daniela (2021): Pandemie sei Dank! Was Seuchen in Österreich bewegten. Amalthea-Verlag, Wien.
Schmidinger, Thomas / Weidenholzer, Josef (Hg.): Virenregime
bahoe books, Wien – 2020, 486 Seiten
ISBN: 978-3-903290-33-4
Titelbild: Martin Sanchez auf Unsplash