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Von Realität und Wirklichkeit

Günter Pohl lädt ein zur Philosophie der AufklärungSonntag ist Büchertag

von Vincent Cziesla (Unsere Zeit)

Die Kriegsgefahr steigt, das Leben verteuert sich in unerhörter Weise, die ökologische Katastrophe spitzt sich zu. Doch statt des organisierten Klassenkampfes prägen Obskurantismus, Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungsmythen die öffentlichen Auseinandersetzungen.

Aber es gibt auch Grund zu Optimismus. Günter Pohl tritt mit seinem Buch „Der Mann mit den Müllsäcken“ an, um den Irrationalismus zu entlarven. Die Basis des grassierenden Kampfes gegen die Vernunft wird dabei innerhalb des irrationalen kapitalistischen Systems und der vorherrschenden bürgerlichen Ideologie, „die gern von sich behauptet, keine zu sein“ (44), verortet.

Ob Hunger, Flucht oder Klimakrise: Die bürgerliche Politik findet keine rationalen Antworten und verdeckt das systemische Versagen durch die Annahme und Verbreitung einer obskuren Weltanschauung. Die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit hängt „geradezu fundamental von der Vernebelung der Zustände ab“ (82), schreibt Pohl und setzt dieser Tendenz eine aufklärerische, dialektisch-materialistische Philosophie entgegen, die nicht nur beschreiben, sondern eingreifen will.

Zu diesem Zweck lässt er seine Protagonisten, die Rheinländer Myop und Noem, im Dialog durch die Philosophie(-geschichte) mäandern. Die beiden diskutieren über die großen Fragen der Aufklärung, über Rationalismus und Irrationalismus, Materialismus und Idealismus. Typisch rheinisch schweifen sie ab, verstricken sich in Detailfragen und finden doch wieder zum Ausgangspunkt zurück. Rede und Gegenrede ermöglichen die dialektische Annäherung an die besprochenen Themen. Ein Foto des titelgebenden Mannes mit den Müllsäcken bildet den Einstieg in das Gespräch. Anhand des Bildes diskutieren Myop und Noem über das Erkenntnispotential von Momentaufnahmen und Bildausschnitten, während die Überzeugung heranreift, dass alle Dinge in ihrer Dynamik und im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen. „Das Sein ist das Werden des Ganzen“, wird Noem gegen Ende zusammenfassen (247).

Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis gibt Günter Pohl seinen Protagonisten einen umfangreichen Wissensschatz an die Hand; von der aristotelischen Kategorienlehre über Kants kategorischen Imperativ bis hin zu Hegels Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit. Natürlich kommen auch Marx und Engels zu Wort. Den Schwerpunkt dieses Bandes bilden die Philosophen der Aufklärung, allen voran der progressive Aufklärer Denis Diderot (1713 bis 1784), dessen Werk ausführlich gewürdigt wird. Dabei belegt Pohl die dialektischen Einsichten des französischen Gelehrten und zieht eine bemerkenswerte Linie von Diderot zu Hegel. Auch die Lehren der anderen Vordenker werden respektvoll aufgenommen und in den historischen Zusammenhang gebracht. Wer sich im 18. Jahrhundert auf Gottsuche begab, um die Ordnung der Welt zu ergründen, konnte durchaus fortschrittlich auf die Ideengeschichte einwirken. Die heutige Philosophie sollte sich jedoch davor hüten, im Unbeweisbaren und Nebensächlichen zu schwelgen, wenn sie nicht selbst zur Vernebelung der Verhältnisse beitragen will und somit aufhört, Philosophie zu sein. Auch Marxisten seien nicht vor solchen Irrwegen gefeit, wenn „etwas viel Geist mit in die rationale Welt des Materialismus hineinschwappt“ (178).

Das Gespräch zwischen Myop und Noem entwickelt eine unterhaltsame Sogwirkung, ist durchgehend lehrreich, aber nie überheblich belehrend. Unzählige andiskutierte Fragen regen zum Weiterdenken an. Das notwendige Rüstzeug dafür wird mit der ausführlichen Erläuterung von philosophischen Begriffen und Kategorien geliefert. Pohl verweigert sich dem Elfenbeinturm, versteckt sich nicht hinter Textwüsten und extremen Abstraktionsgraden. Sein Buch ist eine verständliche und freundliche Einladung an alle, die einen dialektischen Einstieg in die aufklärerische Philosophie suchen. Zugleich bietet „Der Mann mit den Müllsäcken“ eine anregende Lektüre, von der Einsteiger und Erfahrene gleichermaßen profitieren, und ist daher uneingeschränkt zu empfehlen.

Der Mann mit den Müllsäcken
253 Seiten, Hardcover, Fadenbindung, Leinen, Lesebändchen,
Banderole, 26 Euro
Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund

Günter Pohl

geboren 1965 erwartbar und richtigerweise am Niederrhein, nahm nur einen Umweg zu seinem Beruf im gestalterischen und restaurierenden Glashandwerk, den er seit mehr als dreißig Jahren ausübt.

Foto: Günter Pohl

Er lernte und spürte, dass eine Einheit von »Hand und Hirn und Herz« auch ihm sinngebend sein würde. So sind in den vergangenen Jahrzehnten neben vielen Glasmalereien auch annähernd tausend Zeitungsartikel und -kommentare zu Aktualität und Geschichte in Lateinamerika und Europa entstanden, in denen er sich dergestalt mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzt, dass für ihn der einfache Vergleich zur wirkungsvollsten journalistischen Waffe wurde.

In seinen Veranstaltungen zu internationalen Themen begibt er sich im Dialog mit kritisch gesinnter Zuhörerschaft in Richtung weiterführender Erkenntnisse. Die Idee, dass Philosophie ohne solchen Dialog weder aus- noch vorwärtskommt, brachte ihn dazu, diesen ersten Band »Von der Ordnung der Welt« zu schreiben.

Der Beitrag erschien im Januar 2022 in www.unsere-zeit.de‘

Titelbild: Müllsäcke (pixabay)

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