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Migration und Pflegenotstand – ein altes Thema mit neuen Facetten

Täglich neue alarmierende Zahlen zu Bettensperren, schon heute fehlen KollegInnen in der Pflege und Betreuung. Bis 2030 braucht es vorsichtigen Prognosen zufolge 100.000 zusätzliche PflegerInnen. Seit Langem wird an diversen Pflegereformen gearbeitet, konkrete Ergebnisse fehlten großteils noch. Einzelne Bundesländer versuchen seit einiger Zeit, KollegInnen aus dem Ausland anzuwerben. Ist Pflegemigration tatsächlich das Wundermittel zur Bewältigung des Personalmangels? Der Beitrag liefert Fakten und Lösungsansätze.

Von Monica Riedel und Heidemarie Staflinger (A&W-Blog)

2020, während und nach dem ersten Covid-bedingten Lockdown, bereiteten die eingeschränkten Reisemöglichkeiten für Betreuungs- und Pflegekräfte etlichen Familien Sorgen, ob ihre pflegebedürftigen Eltern, Großeltern, Tanten oder Onkel auch weiterhin wie gewohnt versorgt werden können. Das ohnedies schon fragile System der 24-Stunden-Betreuung drohte über Nacht wegzubrechen. Deutlich wurde dabei: Im reichen Österreich verlassen wir uns vor allem bei der 24-Stunden-Betreuung auf Hilfe, vor allem durch Frauen, aus wirtschaftlich schwächeren Ländern. Und nicht nur in diesem Feld, KollegInnen mit Migrationsbezug scheinen für manche AkteurInnen die Lösung in der sich zuspitzenden Pflegepersonalsituation zu sein.

PflegerInnen händeringend gesucht

Bis 2030 braucht es in Österreich 76.000 zusätzliche KollegInnen in der Pflege und Betreuung, nur um demografische Entwicklungen und Pensionierungen zu stemmen. Aktualisierte Prognosen gehen von 100.000 Personen aus. KollegInnen zur spürbaren Entlastung sind hier noch nicht mit eingerechnet. Immer mehr Bundesländer und Träger betreiben ihre Personalsuche im Ausland. So haben z. B. einige steirische Träger einen Anwerbeversuch in Kolumbien gestartet, mit bisher mäßigem Erfolg. Andere Bundesländer versuchen, auf den Philippinen erfolgreich zu sein. Auch im Bericht der Taskforce Pflege werden PflegerInnen mit Migrationsbezug als Zielgruppe definiert.

PflegerIn mit Migrationsbezug – wovon sprechen wir?

Um festzustellen, wie viele der Pflege- und Betreuungspersonen als MigrantInnen anzusehen sind, muss erst Klarheit bestehen, was wir uns unter dem Migrationsstatus vorstellen: eine nicht-österreichische Staatsbürgerschaft? Die Geburt außerhalb von Österreich? Oder den Erwerb einer entsprechenden Ausbildung in einem anderen Land, einem EU-Land, einem Drittstaat? Jeder der drei Definitionsansätze hat seine Tücken, indem er auch Personen umfassen kann, die vielleicht nicht landläufig als Migrantin oder Migrant angesehen werden: Bin ich MigrantIn, wenn ich im Alter von sechs Jahren mit meinen Eltern nach Österreich gekommen und dann geblieben bin? Und wie wäre es, wenn ich erst vor Kurzem gekommen wäre und bald die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen hätte? Je nach Fragestellung kann die eine oder die andere Definition zielführender sein. Die OECD hat auch Zahlen in unterschiedlicher Definition zusammengestellt, nicht in allen Ländern sind alle Zahlen vorhanden.

Jede fünfte Pflegeperson in Österreich ist im Ausland geboren

Bezogen auf die Geburt außerhalb des jeweiligen Landes, lag Österreich mit rund 20 Prozent sowohl bei allen Pflegepersonen wie auch bei jenen mit höherem Ausbildungsgrad (3 Jahre Ausbildung und mehr) im Jahr 2015/16 an achter Stelle der 27 OECD-Länder mit verfügbaren Daten. Höhere Anteile als Österreich haben vor allem klassische Einwanderungsländer wie Israel, Australien, Kanada und das Vereinigte Königreich sowie sehr reiche Länder (Luxemburg, Schweiz).

Migrationsbezug in der Pflege
Grafik: A&W-Blog

Die Zahlen für im Ausland ausgebildetes Pflegepersonal liegen typischerweise unter den Zahlen bezogen auf den Geburtsort, beispielsweise sind 16,2 Prozent der Pflegekräfte in Deutschland nicht dort geboren, aber nur 7,0 Prozent nicht in Deutschland ausgebildet worden. Für Österreich liegt im OECD-Bericht noch keine Zahl mit Bezug zum Ausbildungsland vor; erste Hinweise bringt das Gesundheitsberufe-Register. Zum Stichtag 31.12.2020 haben 12 Prozent der registrierten Diplomierten Gesundheits- und KrankenpflegerInnen bzw. 10 Prozent aus allen drei registrierungspflichtigen Pflegeberufen ihre Ausbildung im Ausland erworben. Mindestens 60 Prozent dieser ausländischen Ausbildungen stammen aus der EU.

Viele kommen aus Deutschland

Allein 22 Prozent der Pflegekräfte ohne österreichische Staatsbürgerschaft sind Deutsche und vermutlich aus anderen Gründen als der Berufsausübung in Österreich. Tatsächlich stellt diese Zahl aber wohl eine Untergrenze dar: Im Jahr 2020 wurde im Zuge der Pandemie die Registrierungspflicht für Pflegeberufe schließlich ausgesetzt. Pandemiebedingt gibt es laufend Veränderungen beim Aussetzen der Registrierung und weiteren Vorgaben zur Berufsausübung. Ähnlich wie in der gesamten OECD wächst der Anteil des im Ausland geborenen Pflegepersonals auch in Österreich, konkret stammt rund ein Drittel des Zuwachses an Pflegepersonal im Zeitraum 2010 bis 2015 (aktuellere Daten liegen international nicht vor) aus Zuwanderung.

Registrierte Pflegekräfte ohne österreichischen Staatsbürgerschaft, Deutschland stellt den größten Anteil
Grafik: A&W-Blog

Auslandsanwerbung als Wundermittel?

Angesichts des demografischen Wandels wird in Ländern wie Österreich regelmäßig der Ruf nach (noch) mehr Einwanderung von Pflegepersonal laut. Die Auswirkungen auf die Herkunftsländer stehen meist im Hintergrund. Auch wird kaum gefragt, ob solcher Brain-Drain – also das Abwerben gerade der besser Ausgebildeten aus Ländern mit schlechterem wirtschaftlichem Niveau – ethisch vertretbar ist. Und überhaupt totgeschwiegen wird die Frage, warum wanderungswilliges Pflegepersonal nach Österreich kommen sollte anstatt in andere Länder mit möglicherweise attraktiveren Arbeitsbedingungen.

Im Jahr 2010 wurde der WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel verabschiedet, ein Monitoring-Rahmen für ethische Prinzipien und Praktiken beim Rekrutieren von Gesundheitspersonal. Der WHO „Code of Practice“ definiert, aus welchen Ländern es ethisch vertretbar ist, Personal zu rekrutieren, und bezieht sich dabei auf die Frage, ob im Herkunftsland dadurch ein Personalengpass erzeugt oder verstärkt würde. Leider ist dieser Monitoring-Rahmen nicht bindend. Damit bieten sich selbst Ländern, die eigentlich die Einhaltung dieses Verhaltenskodex beschlossen haben, Umgehungsmöglichkeiten.

Exkurs: 24-Stunden-Betreuung

Paradebeispiel für Personal aus dem Ausland

Das Segment der 24-Stunden-Betreuung ist datenmäßig weitgehend eine Blackbox. Im Gesundheitsberuferegister sind die 24-Stunden-BetreuerInnen nicht erfasst, da sie in der Regel über keine der drei registrierungspflichtigen Ausbildungen verfügen. „Wer eine solche Ausbildung hat, ist schon längst in eine besser bezahlte Stelle in mobilen Diensten oder Pflegeheimen abgewandert“, merkte ein Betreiber einer Vermittlungsagentur in einem Hintergrundgespräch dazu lakonisch an.

Eine umfassende Information über die Herkunftsländer der 24-Stunden-Betreuungskräfte liegt lediglich in einem Rechnungshofbericht vor. Demnach stammte am Stichtag 31.12.2015 fast die Hälfte der registrierten Betreuungskräfte aus der Slowakei und über ein Drittel aus Rumänien. Im gleichen Bericht wird jedoch darauf hingewiesen, dass sich die Rekrutierung bereits weiter verschoben habe und Bulgarien und Rumänien höhere Anteile bestreiten. Mit dem EU-Beitritt dürfte auch Kroatien als Herkunftsland an Bedeutung gewonnen haben.

Europa altert – auch in den Herkunftsländern der Pflege-MigrantInnen

Zur Beschreibung der demografischen Ausgangslage bei Pflege wird gerne die „Old Age Dependency Ratio“ herangezogen, also die Personenanzahl in der Altersgruppe 80-plus dividiert durch die Personenanzahl im Erwerbsalter (20–64 Jahre). Je höher diese Ratio, desto weniger jüngere Personen stehen theoretisch zur Unterstützung der älteren (und häufig pflegebedürftigen) zur Verfügung. Gemessen an dieser Zahl, ist die Dramatik in Österreich im Moment noch höher als in den typischen Herkunftsländern der Inner-EU-Pflegemigration. Man könnte also denken, dass es vertretbar sei, aus diesen Ländern Pflegekräfte zu rekrutieren. Gleichzeitig gibt es aber schon derzeit in diesen Ländern weniger Pflegekräfte pro Bevölkerungseinheit als in den westlichen Ländern wie Österreich. Die abgeworbenen PflegerInnen gehen daher schmerzlich bei der Versorgung der dortigen Bevölkerung ab, was die Rekrutierung von Pflegepersonal aus diesen Ländern ethisch fragwürdig macht. Zudem ist offen, wie lange sich das Wohlstandsgefälle, das bislang das wichtigste Motiv für die Arbeitsmigration Richtung Westen dargestellt hat, noch halten wird.

Anwerbung von ausländischen PflegerInnen – das gilt es zu beachten

Auf dem Weg zur Arbeit in einem Pflegeberuf in Österreich gilt es einige Herausforderungen zu bewältigen. Gesundheitsberufe generell – so auch die Pflege- und Sozialbetreuungsberufe – unterliegen speziellen Berufsrechten, wie z. B. dem Gesundheits- und Krankenpflegegesetz. KollegInnen können in einem dieser Berufe nur arbeiten, wenn sie die Ausbildung in Österreich absolviert haben bzw. eine Anerkennung bzw. Nostrifikation einer im Ausland erworbenen Ausbildung haben. Basis für die Anerkennung ist die Europäische Richtlinie über Berufsanerkennungsregeln (2005/36/EG). Zudem sind alle Angehörigen von Pflegeberufen (und den Berufen der Medizinisch-technischen Dienste) in das Gesundheitsberuferegister einzutragen (Achtung: eventuell befristete Covid-Ausnahmeregeln), bevor eine Berufsausübung in Österreich möglich ist. Neben den berufsrechtlichen Grundlagen sind weitere arbeits- und aufenthaltsrechtliche Bestimmungen zu beachten. Vor allem bei PflegerInnen aus Drittstaaten braucht es einen aktuellen Aufenthaltstitel. Zusätzlich gibt es unterschiedliche Bestimmungen für einen Zugang zum Arbeitsmarkt. Für Menschen aus der Ukraine, die in Österreich derzeit Schutz und Arbeit suchen, gilt die „Massenzustrom-Richtlinie“.

Pflegearbeit in Österreich – ist das überhaupt attraktiv?

In der öffentlichen Diskussion wenig beachtet wird, ob es für Pflegepersonal überhaupt noch attraktiv ist, nach Österreich zu kommen. Praktisch weltweit werden Pflegekräfte gesucht, und in den letzten Jahren war beispielsweise Deutschland erfolgreicher darin, Pflegekräfte aus dem Ausland anzuziehen: In den Gesundheits- und Krankenpflegeberufen stieg der Anteil von Personen mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 6 Prozent (Juni 2015) auf 12 Prozent (Vergleich alle Berufe im selben Zeitraum: von 9 Prozent auf 13 Prozent). Hierzu wurden einige Programme ins Leben gerufen – und finanziert, und dennoch wird der Erfolg dieser Programme als gering eingeschätzt.

Zudem ist der Verbleib von bereits aus dem Ausland rekrutiertem Personal nicht garantiert. Einige spanische Pflegekräfte, die nach der Finanzkrise 2008 nach Deutschland geholt wurden, sind ernüchtert in ihre Heimat zurückgekehrt, weil sie die Arbeitsbedingungen als zu schlecht empfanden. Aus ihrer Heimat waren sie mehr Wertschätzung, Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen auf Augenhöhe sowie bessere Personalschlüssel gewohnt. Eine Befragung von zwei Gruppen von Pflegepersonal, einheimischem und zugewandertem, führte zu ähnlichen Erkenntnissen und zeigt insbesondere auf, dass erhebliche Anstrengungen für die Integration der MigrantInnen unternommen werden müssen, um die gewünschte Entlastung des bestehenden Pflegepersonals zumindest teilweise zu erreichen. Dieser Aspekt geht weit über den Erwerb von Sprachkenntnissen hinaus. MigrantInnen kommen oft mit akademischer Pflegeausbildung und sind die Übernahme von mehr organisatorischen und medizinischen Aufgaben gewohnt, die in Deutschland – und wohl auch in Österreich – eher dem ärztlichen Bereich zugeteilt werden. Die Grundpflege ist in ihren Herkunftssystemen häufig stärker die Aufgabe von Hilfskräften oder auch Angehörigen. Treffen diese beiden unterschiedlichen „Pflegekulturen“ unvorbereitet aufeinander, sind Missverständnisse und Unzufriedenheit auf beiden Seiten erwartbar, was weder der Verweildauer im Zielland noch der angestrebten Pflegequalität guttun kann.

Pflegemigration ist kein Wundermittel zur Deckung des Pflegepersonalbedarfs

Als Fazit ergibt sich die Einschätzung, dass Immigration von Pflegekräften allenfalls ein kleiner Beitrag zur Lösung des Engpasses in der Pflege sein kann, aber nicht die Hauptlast des zukünftigen Pflegebedarfes stemmen wird können. Selbst für diesen Beitrag bedarf es Anstrengungen, das Personal überhaupt nach Österreich zu holen und dann zu halten. Es gibt keine Gründe anzunehmen, dass die für Deutschland dokumentierten Probleme in Österreich fehlen; sie sind wohl einfach hierzulande weniger erforscht. Noch immer scheitern Menschen mit ausländischen Abschlüssen am bürokratischen Aufwand für Anerkennungen und Nostrifizierungen und arbeiten dann – teils auch zur Existenzsicherung – in gesundheitsfernen Berufsfeldern. Raschere Verfahren, Unterstützung beim Spracherwerb, die Übernahme von Kosten und mehr Lehrgänge, um fehlende Kompetenzen zu erlernen, sind hier erste wesentliche Schritte. Zudem sollten bei der Auswahl von Zielgruppen für Pflegeberufe vor allem auch Menschen mit Migrationsbezug vermehrt angesprochen und gezielte Bildungsaktivitäten angeboten werden.

Schlussendlich wird kein Weg daran vorbeiführen, mehr Pflegepersonal im Inland zu rekrutieren. Die Attraktivierung der Pflege wird regelmäßig beschworen, spiegelt sich aber immer noch weder in Personalschlüsseln noch in der Gehaltsstruktur wider. Wichtige Tätigkeiten für ein nachhaltiges Bewahren der Pflegequalität finden sich oft gar nicht oder zu knapp im Personalschlüssel, wie die Einarbeitung von KollegInnen, Praxisanleitungen oder offizielle Fortbildungen. Zahlen der OECD über Ausbildungsabschlüsse in der Pflege attestieren Österreich im internationalen Vergleich keineswegs überdurchschnittliche Bemühungen dabei, die Pflegekapazitäten zu erhöhen. Schweden beispielsweise bildet pro 100.000 EinwohnerInnen mehr diplomiertes Personal aus als Österreich Pflegepersonal insgesamt. Die so häufig als vorbildlich zitierten Niederlande weisen im Pflegesektor sogar um 45 Prozent mehr AbsolventInnen auf als Österreich.

AbsolventInnen der Pflegeausbildung, Österreich europaweit im Mittelfeld
Grafik: A&W-Blog

Allein bei der Erstausbildung der Jugend anzusetzen, wird ebenfalls nicht ausreichen. Es braucht zusätzlich attraktive und realistisch leb- und finanzierbare Angebote für Frauen und Männer, die eine Umschulung und einen beruflichen Neustart anstreben. All diese Erkenntnisse sind nicht neu, müssen aber endlich von den virtuellen Schubladen in die Köpfe der politisch Verantwortlichen transferiert werden.

Schlussendlich sollte auch bei den zukünftigen Pflegebedürftigen angesetzt werden. Prävention von Pflegebedarf ist ein vielschichtiges und keineswegs geradliniges Unterfangen und kann nur in einzelnen Bereichen direkt adressiert werden. Dennoch sollte gerade in Österreich, wo das Ausmaß an Präventionsbemühungen durchaus noch steigerbar ist, dieser Weg aktiv beschritten werden. Die Herausforderungen liegen seit Langem auf dem Tisch, Bund und Länder sind gefragt, schnellstmöglich die Pflegereformen voranzutreiben für mehr KollegInnen in der Pflege und eine bessere Pflege- und Arbeitsqualität. Die am 12. Mai präsentierten Ideen sind in großen Teilen wichtige erste Reformschritte, es fehlen aber noch viele weitere Schritte zur Attraktivierung der Pflege.


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