Soziale Rhetorik, marktliberale Praxis? Eine Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD
Viele PolitikerInnen bekunden regelmäßig ihr Eintreten für die Anliegen der „kleinen Leute“ und der „Mittelschicht“. Dieses Vorgehen zur Stimmenmaximierung ist zwar weit verbreitet, wird aber insbesondere von rechtspopulistischen Parteien exzessiv betrieben. Hierbei bleibt letztlich oft im Dunkeln, welche konkreten sozioökonomischen Politiken jenseits der politischen Rhetorik in der politischen Praxis eigentlich tatsächlich verfolgt werden.
Von Dominik Kronberger, Karl Beyer und Stephan Pühringer (A&W-Blog)
Inwieweit gibt es eine Diskrepanz zwischen politischer Rhetorik einerseits und realpolitischer Praxis andererseits? Dieser Frage sind wir in unserer Studie am Beispiel der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Alternative für Deutschland (AfD) nachgegangen.
Die sozioökonomischen Narrative der AfD: neoliberal oder interventionistisch-sozial?
Unsere Studie nimmt konkret in den Blick, welche grundlegenden sozioökonomischen Narrative und damit korrespondierenden wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen die politische Agenda und parlamentarische Praxis der deutschen AfD prägen. Diese Narrative und Vorstellungen finden wiederum ihren Ausdruck in den programmatischen Positionierungen der Partei als auch in den diskursiven Äußerungen und der politischen Praxis der AfD-MandatarInnen. Fokus der Studie war es in weiterer Folge zu untersuchen, in welchen Bereichen die Narrative und Vorstellungen der AfD ordo- und neoliberalen Vorstellungen entsprechen und in welchen Fällen Argumente einer interventionistisch-sozialen Sichtweise zugeordnet werden können. Unter interventionistisch-sozial fassen wir neben antizyklischer Konjunkturpolitik auch die Bereitstellung von sozialen Sicherungssystemen, öffentlichen Gütern sowie diverse Umverteilungsmechanismen in Form von progressiven Steuern, Transferleistungen oder der Festlegung von Höchst- und Mindestpreisen.
Zu diesem Zweck wurde eine computerunterstützte kritische Diskursanalyse von programmatischen Positionierungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik vorgenommen. Hierfür haben wir in einem ersten Schritt alle programmatischen Dokumente der AfD-Bundespartei seit 2013 untersucht (u. a. Bundestagswahlprogramme, Parteiprogramme). Zweitens wurden sämtliche Anträge, Gesetzesentwürfe und Debattenbeiträge im Deutschen Bundestag mit Bezug zur Sozial- und Wirtschaftspolitik (konkret zu den Fachausschüssen Haushalt, Finanzen, Wirtschaft und Energie sowie Arbeit und Soziales) für die Zeitperiode 2017 bis 2020 analysiert. Und zuletzt wurde für diesen Zeitraum auch das sozialpolitische Abstimmungsverhalten der AfD-Fraktion evaluiert.
Wirtschaftspolitik gemäß marktwirtschaftlicher und wettbewerblicher Prinzipien
Die Wirtschaftspolitik der AfD steht uneingeschränkt auf dem Boden marktwirtschaftlicher Regeln und Prinzipien. Ganz dem neoliberalen Narrativ folgend sollen den Marktmechanismen möglichst große Freiheiten eingeräumt werden. Staat und Politik fallen in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung nur relativ eng definierte Kernaufgaben zu:
- Erstens haben sie nach innen wettbewerbliche Rahmenbedingungen zu implementieren und nach außen die nationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts zu unterstützen. Diese Aufgabe schließt staatliche Eingriffe in den Marktprozess (etwa durch Subventionen, Vorschriften und Verbote, bestimmte Steuern etc.) dezidiert aus, da solche „planwirtschaftlichen Methoden“ den Wettbewerb konterkarieren und die nationale Wettbewerbsfähigkeit gefährden würden.
- Zweitens habe die Politik umfassende Maßnahmen zur Deregulierung und zum Abbau von Bürokratie zu verfolgen, um so die unternehmerischen Freiheiten zu stärken.
- Drittens bedarf es einer umfangreichen Steuerentlastung für die Bevölkerung und Unternehmen, was auch die wirtschaftliche Aktivität und Wachstum ankurbeln würde.
- Zugleich gelte es viertens, die staatlichen Ausgaben zur Konsolidierung des Staatshaushalts zu reduzieren. Akzeptabel sind staatliche Ausgaben hingegen in Form öffentlicher Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung oder in die Ausbildung von Fachkräften, da es sich hier um zukunftsgerichtete Investitionen handle, welche für den Erhalt des gesellschaftlichen Wohlstands unabdingbar sind.
Einzig im wirtschaftlichen Krisenfall weicht die AfD von ihren neoliberalen wirtschaftspolitischen Prinzipien ab und akzeptiert auch interventionistische Wirtschaftspolitik. In einem solchen Szenario habe der Staat durch antizyklische Konjunkturpolitik entgegenzuwirken, wobei ausnahmsweise auch die Aufnahme von Schulden durch den Staat (Deficit-Spending) denkbar und legitim sei.
Im internationalen Kontext hingegen haben diese wirtschaftspolitischen Prinzipien so lange ihre Gültigkeit, solange der heimische Markt nicht Gefahr läuft, von ausländischen Unternehmen oder Produkten dominiert zu werden und somit die eigene Marktführungsrolle in Bedrängnis gerät. Ist Letzteres der Fall, so werden globale ausländische Konzerne als auch die Europäische Union an sich als Problem adressiert, vor dem die eigene Wirtschaft gegebenenfalls durch protektionistische Maßnahmen geschützt werden muss. Aus nationalistischem Kalkül werden wettbewerbliche Prinzipien nun einem intervenierenden Protektionismus, welcher gegen ausländische bzw. globale Einflüsse gerichtet ist, untergeordnet.
Sozialstaat und Sozialpolitik
In ihrer Selbstdarstellung zeichnet sich die AfD als Partei mit sozialem Charakter, welche für „die kleinen Leute“ und für die „Arbeiterklasse“ einstehe. Ein Blick auf die Positionen, die Aussagen und das Abstimmungsverhalten zu den Bereichen Sozialstaat und Sozialpolitik ist hier aufschlussreich. Vonseiten der AfD wird rhetorisch die Bedeutung des Sozialstaates immer wieder betont und von dessen Stärkung gesprochen. Die Realpolitik im Parlament hingegen zeichnet ein anderes Bild. Im Abstimmungsverhalten der AfD wird deutlich, dass für diese ein Ausbau oder zumindest weitgehender Erhalt des Sozialstaates kaum ein Anliegen darstellt und stattdessen vielmehr das Zurückdrängen dessen Praxis ist.
Sozialpolitik sei weniger über soziale Transferleistungen zu bewerkstelligen, sondern vielmehr über andere Wege anzustreben. Im Zentrum steht hierbei die Steuerpolitik. So sind aus Sicht der Partei gezielte Steuersenkungen die beste und wirkungsvollste Form der Sozialpolitik. Erstens können so die verfügbaren Einkommen der Haushalte gesteigert werden, ihnen würde mehr Netto vom Brutto bleiben. Hier spricht sich die AfD vor allem für die Abschaffung der kalten Progression als auch des – vor allem von hohen Einkommen eingehobenen – Solidaritätszuschlags aus, wobei fraglich ist, inwiefern dies auch niedrigen Einkommen zugutekäme. Zweitens sollen die Preise durch die Reduktion oder Abschaffung unterschiedlicher Steuern gesenkt werden, um so die reale Kaufkraft der BürgerInnen zu steigern. Vor allem Einkommensschwache und Familien mit Kindern würden von diesen „sozial gerechten“ Maßnahmen profitieren. Eine entsprechende Wirkung könne etwa über die Anwendung des reduzierten Umsatzsteuersatzes auf Güter und Dienstleistungen des Kinderbedarfs oder über die Reduktion der Stromsteuer erreicht werden. Auch in der Abschaffung der Grunderwerbssteuer wird eine sozialpolitische Maßnahme gesehen, als diese den Erwerb von Wohnungseigentum erleichtere.
Faktisch jedoch kommen pauschale Steuersenkungen ohne entsprechende Umverteilungsmechanismen selten niedrigen bis mittleren Einkommen zugute, wohingegen Großunternehmen und eben jene, die sich bereits über ein hohes Auskommen freuen dürfen, meist profitieren. Darüber hinaus bedeutet die durch Steuersenkungen herbeigeführte „Verschlankung“ des Sozialstaates, dass soziale Leistungen über kurz oder lang reduziert werden.
Trickle down?
In Zuge dessen wird häufig der zentrale Wert individueller ökonomischer Freiheit herausgestrichen. Insgesamt sollen harte Arbeit und der „Trickle-Down-Effekt“ – dieser besagt, dass eine wohlhabende Gesellschaftsschicht durch Konsum und Investitionen auch der Mittel- und Unterschicht zugutekommt – zu einem höheren Wohlstandsniveau für alle führen.
Im Weiteren ist die Sozialpolitik und im Speziellen die Familienpolitik der AfD – ähnlich wie unter Türkis-Blau in Österreich – stark nativistisch bzw. sozialchauvinistisch geprägt, womit eine klare Grenze in Form von Bevorzugungen bzw. Benachteiligungen zwischen „Deutschen“ und MigrantInnen gezogen wird. Es werden beispielsweise Sozialleistungen und Kindergelderhöhungen aufgrund der angeblich hohen Anzahl an BezieherInnen mit Migrationshintergrund als problematisch angesehen. Auch der soziale Wohnbau ist aus Sicht der Partei in Deutschland gescheitert und sollte auch nicht wiederbelebt werden. Im Gegenteil: Der Staat soll hier sein Wohneigentum zum Selbstkostenpreis an MieterInnen abtreten, um so den gestiegenen Preisen auf dem Immobilienmarkt entgegenzuwirken.
Streitpunkt Pensionsvorsorge
Altersarmut ist auch in Deutschland sowohl gesellschaftliches Problem als auch brisantes politisches Thema, das im Vorfeld zur Bundestagswahl 2017 innerparteilich kontroversiell diskutiert wurde, worauf sich zwei diametrale Standpunkte herauskristallisierten. Jener von Parteivorsitzendem Jörg Meuthen spiegelt die neoliberale Privatisierungsdenkweise wider, die die Auflösung der beitragsfinanzierten Altersvorsorge mit einer aus Steuermitteln finanzierten Minimalrente vorsieht, welche jegliche weitere Altersvorsorge dem privaten Sektor überlässt. Das Konzept des Thüringer Landtagsabgeordneten Björn Höcke, welcher auch die Führungsrolle des parteiinternen rechten Flügels innehat, hingegen fokussiert auf eine teilweise Stärkung der staatlichen Rente, exklusiv für StaatsbürgerInnen ab 35 Beitragsjahren. Zugleich werden jedoch restriktivere Kriterien für Menschen mit Migrationshintergrund gefordert. Hier haben sich sozialstaatliche Forderungen aus einem rechten Spektrum entwickelt. Eine Erhöhung des Pensionsanspruchs – welcher im Vergleich zu Österreich deutlich niedriger ausfällt – oder die Einbindung der Selbstständigen in die allgemeine Pensionsvorsorge werden von der AfD kritisch gesehen. Die Lösung versprechen wiederum Abgabenreduzierungen in Form von – Besserverdienende bevorzugenden – Freibeträgen und weiteren steuerlichen Förderungen. Zwar wird an der staatlichen Altersvorsorge festgehalten, jedoch wird immer wieder auf die Eigenverantwortung zur Vorsorge verwiesen, in Zuge dessen der Rahmen für freiwillige Zusatzzahlungen in das staatliche Pensionssystem erweitert werden soll.
Arbeitsmarkt – Leistung, Eigenverantwortung und Nativismus
Auch in der Arbeitslosenversicherung wünscht sich die AfD eine einschneidende „Reformierung“, die faktisch zu einer weiteren Entsolidarisierung und Spaltung führt. Denn es sollen versicherungsfremde Leistungen ausgegliedert werden, und damit soll eine strikte Beschränkung auf Beitragsein- und -auszahlungen erfolgen. Langzeitarbeitslose oder jene, die nur unregelmäßig bzw. geringe Beiträge geleistet haben, würden somit keine finanziellen Hilfeleistungen durch das deutsche Arbeitsamt erhalten, sondern müssten andernorts eine Form der Sozialhilfe beantragen. Wer ausreichend Beiträge eingezahlt hat, würde einen vergleichsweise einfacheren und besseren Zugang zu den Leistungen erfahren.
Was besonders auffällt, ist, dass vonseiten der AfD die politische Diskussion um den Arbeitsmarkt „nativistisch“ gerahmt wird, d. h. „Einheimische“ und „Fremde“ werden einander gegenübergestellt. So soll nur den benötigten und qualifizierten Fachkräften, die einer existenzsichernden Tätigkeit nachgehen, Zugang zum deutschen Sozialsicherungssystem gewährt werden. Außerdem führt laut AfD die „unkontrollierte Migration“ zu einer verschärften Konkurrenz auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Dabei wird auch die EU-weite ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit kritisiert. Die Notwendigkeit des Zuzugs von Arbeitskräften aus dem Ausland für viele Branchen wird zwar allgemein anerkannt, gleichzeitig jedoch werden von der Partei diese Menschen oftmals als SozialschmarotzerInnen und als Sündenböcke für heimische Probleme dargestellt.
Ablehnung des Mindestlohns
Jegliche Form der Förderung von Arbeitsplätzen wird als „Symptombekämpfung“ gewertet, welche keine nachhaltigen positiven Effekte erbringt. Das gilt laut AfD auch für den in Deutschland gesetzlich festgelegten Mindestlohn, welcher aufgrund der geringen Tarifbindung – in Österreich durch Kollektivverträge geregelt – durchaus notwendig ist. Stattdessen wird argumentiert, dass dergleichen nur aufgrund von falschen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen erforderlich sei. Würde der Markt weitgehend ungehindert seine Kräfte entfalten können, wären intervenierende lohnpolitische Maßnahmen laut AfD nicht notwendig. Zwar werden als kurzfristige Lösung Mindestlohn(-erhöhungen) und kleinere Eingriffe von staatlicher Seite als legitim angesehen, sind jedoch laut eigener Ansicht keine Möglichkeit, die grundlegende Problematik zu beheben. Diese sei, wie so oft, nur im (markt-)wirtschaftlichen Spektrum zu finden.
Soziale Politik? Leere Wahlkampfrhetorik!
Seit ihrer Gründung verläuft die politische Argumentation der AfD im Deutschen Bundestag weitestgehend entlang marktliberaler bzw. marktradikaler Grundsätze. In manchen Bereichen hingegen werden diese zugunsten von nativistischen oder nationalistischen Perspektiven an zweite Stelle gerückt. Jedoch wird stets versucht, die eigene Position rhetorisch so zu transportieren, dass diese zum Wohle der „eigenen“ Bevölkerung gefordert wird.
Die Marktwirtschaft wird hierbei rhetorisch mit Attributen wie „natürlich“, „nachhaltig“ und „solide“ versehen, wohingegen die AfD interventionistisch-soziale Maßnahmen als „künstlich“, „unnatürlich“, „verzerrend“, „manipulierend“ und „rein ideologisch“ ansieht. Daher tritt die Partei – mit Ausnahme von besonderen Krisensituationen – gegen staatliche Interventionen, einen Ausbau von Transferleistungen und sozioökonomische Umverteilung ein.
In der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wird weniger auf Maßnahmen gesetzt, die direkt auf ArbeitnehmerInnen oder Haushalte wirken, sondern auf den nationalen wirtschaftlichen Erfolg und einen damit – vermeintlich – verbundenen „Trickle-down-Effekt“.
Rhetorisch betont die AfD oft Notsituationen von (einheimischen) unteren Einkommensschichten. Armut und Armutsgefährdung sieht die Partei durchgängig jedoch als Folge fehlgeleiteter Wirtschaftspolitik an. Sozialleistungen zu erhöhen ist in den Augen der Partei folglich der falsche Weg. Somit steht die AfD letztlich einem solidarisch agierenden, umverteilenden Sozialstaat entgegen. Soziale Politik für die „kleinen Leute“ bleibt also weitgehend leere Wahlkampfrhetorik.
Titelbild: vfutscher auf Flickr / CC BY-NC 2.0