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Guck mal, wie arm!

Sich über arme Menschen lustig zu machen hat im deutschen Fernsehen Tradition.

Von Nikita Vaillant (fluter.)

Wer in den Nullerjahren aufgewachsen ist, durch Privatsender zappte und Internetzugang hatte, kennt sie alle: „Psycho Andreas“, der für sein wütendes „Halt, stopp!“ bekannt wur­de, „Nadine the Brain“, die meint, Bioprodukte seien Abfall, oder die dicke Frau aus „Mitten im Leben“, die angeblich Klopapier mit Kakao dazu isst.

In den Sendungen, aus denen diese Clips stammen, geht es um vermeintlich alltägliche Probleme. Was sie eint, sind die ärmeren Milieus, in denen sie spielen. Deswegen werden sie auch „Unterschichtenfern­sehen“ genannt. In den Generationen Y und Z ist zudem ein anderer Begriff verbreitet: „Assi-­TV“.

Selbst unappe­titlich lange Zehennägel sind vor der Kamera nicht sicher

Zwar sind die goldenen Tage von „Mitten im Leben“ oder „Frauentausch“ vorbei, auf RTL II, RTL und Vox laufen aber längst neue Formate, die diese Tradition fortführen. Da gibt es zum Beispiel die Sozialdokumentation „Armes Deutsch­land – Stempeln oder Abrackern“. Hier werden in jeder Fol­ge zwei Schicksale gezeigt: Die einen „stempeln“, beziehen also Sozialleistungen, und die anderen schlagen sich gerade so mit mehreren Jobs durch.

Für seine Studie „Ar­mutszeugnis – wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt“ hat sich der Medienwissen­schaftler Bernd Gäbler intensiv mit „Armes Deutschland“ befasst. „Gerade dieses Format teilt durch Kommentierung stark in ‚gut‘ und ‚böse‘ ein. Die Teilnehmer werden in dieses Schema reingezwängt“, sagt er. Tatsächlich gibt es durchweg gehässige Kommenta­re aus dem Off, wenn die Protagonisten einmal als vermeint­lich faule Sozialhilfeempfänger entlarvt werden. Als ein junges Paar aus Brandenburg, das von Hartz-IV und Kinder­geld lebt, zurück zu den Eltern zieht, wird höhnisch ver­kündet: „Die Ex­-Partner verteilen ihre Lebenskosten gerecht auf den Staat und ihre Eltern (…), der Weg zurück ins Kin­derzimmer hat sich für beide erst mal ausgezahlt.“ Auch durch den Schnitt zeigen die Macher die Teilnehmer von ihrer schlechtesten Seite. Wenn diese von gesunder Ernährung sprechen, gibt es eine Einstellung auf den Tiefkühler, in dem sich Fertigkost stapelt. Wenn sie davon sprechen, im Haushalt zu helfen, sieht man parallel den Schmutz in den Ecken. Selbst der unappe­titlich lange Zehennagel eines Teilnehmers ist vor der heran­zoomenden Kamera nicht sicher.

Als ein Hartz-IV beziehender Vater seine Schachtel Zi­garetten mit Freunden teilt, heißt es: „Statt seine Schulden zu zahlen, verteilt er das Geld vom Staat unter seinen Freunden.“ Bei einem anderen, der für einen Freundschaftsdienst neben Essen und Trinken auch Geld annimmt, wird kommentiert: „Auch wenn für D. die Grenzen fließend sind, betrügt er ein­deutig den Sozialstaat.“ Für solche Rechtsfragen gibt es sogar ein eigenes Spin­off: „Armes Deutschland – dürfen die das?“

„Endlich die wöchentliche Dosis asozial“ heißt es in den Kommentaren

Unter den hunderttausendfach geklickten Videos der Serie auf YouTube kann man einen Eindruck davon gewinnen, warum Menschen die Serie schauen: „Endlich die wöchent­liche Dosis asozial“ oder „Endlich sieht man wieder Leute, die noch schlimmer sind als man selbst“ steht in den Top­kommentaren. Auch Medienwissenschaftler Bernd Gäbler meint: „In der Regel ist es eine Mischung aus Identifikation und Vergleich – man sieht gern Menschen, die einem in ihrer Lebenssituation ähneln, denkt sich aber auch: ‚Zum Glück bin ich nicht so schlimm wie die.‘“ Für manche Teilnehmer hat die Sendung ernsthafte Konsequenzen. Der Familien­vater, der seine Schachtel Zigaretten teilte, erhielt nach Aus­strahlung seiner Folge Hassnachrichten und Drohungen – sein Leben „sei zerstört“, berichtete er in einem Zeitungs­artikel. Auch seine damalige Frau bereut ihr Auftreten in „Armes Deutschland“. Auf eine Interviewanfrage antwortete sie, dass sie ein neues Leben führe und nicht mehr mit ihrer Teilnahme konfrontiert werden möchte.

„Diese Formate tun so, als würden sie diesen Men­schen eine Stimme geben: Richtig zuhören tun sie aber nicht“, resümiert auch Bernd Gäbler. Die Figur des „Assis“ wird wohl fester und beliebter Bestand­teil deutscher Popkultur bleiben – dafür werden die Macher von TV­-Formaten wie „Armes Deutsch­land“ schon sorgen.


Dieser Text wurde am 23.12.2021 auf fluter.de unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine nicht-kommerzielle Weiterverwendung unter Namensnennung des*der Urheber*in sowie ohne Bearbeitung. 

Titelbild: Possessed Photography on Unsplash 

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