Brasilien: Sprunghafte Zunahme von Neonazi-Zellen
Laut einer Studie der Anthropologin Adriana Dias ist die Anzahl neonazistischer Gruppierungen in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Gab es 2015 noch 75 Zellen in Brasilien, lag die Zahl Ende 2021 bei 530.
Von NPLA / Brasil de Fato
Dias, die seit rund 20 Jahren zu diesem Thema forscht, erklärte, ein wesentliches Merkmal dieser Gruppen sei das Verbreiten von Hassreden. Als Zielscheibe dienten dabei Frauen, Schwarze, jüdische, indigene oder behinderte Menschen oder Nordestinos, die Bewohner*innen des als „unterentwickelt“ geltenden Nordostens des Landes. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Ideologie der Neonazis immer mehr an Boden gewinnt, ist ihre zunehmende Präsenz im Internet. Im Jahr 2020 wurde in Brasilien wegen Menschenrechtsverletzungen gegen 2.516 Seiten auf 666 Domains ermittelt. Auch die Zahl der Straftaten, die dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet werden, nimmt zu: Allein zwischen 2018 und 2019 verdreifachte sich die Zahl der registrierten Fälle.
Vermehrt jugendliche Mitglieder
Laut dem Sonderkommando gegen organisierte Kriminalität Gaeco (Grupo de Atuação Especializado no Combate ao Crime Organizado), das gegen militante rechtsradikale Aktionen ermittelt, werden gezielt Jugendliche angeworben. Knapp ein Viertel der Durchsuchungsbeschlüsse richtete sich gegen minderjährige Tatverdächtige. In vielen Fällen zeigten sich die Eltern überrascht darüber, dass ihre Kinder verdächtigt werden, mit Neonazi-Gruppen in Verbindung zu stehen. Oft stellt sich heraus, dass die Eltern keine Ahnung haben, was ihre Kinder in den sozialen Netzwerken machen. Wie die Zivilpolizei von Rio de Janeiro bestätigte, hatte ein Minderjähriger gegenüber den Behörden gestanden, einen Anschlag in Sao Paulo geplant zu haben. Im Haus des Jungen wurden Schusswaffen und selbstgebastelte Bomben sichergestellt. Adriano França, Leiter der Polizeidienststelle für Gewaltdelikte an Schutzbefohlenen und Kindern in Rio de Janeiro erklärte auf einer Pressekonferenz, der Jugendliche habe seine selbstgebastelten Bomben bei einer Silvesterfeier zünden wollen.
Amokläufer Taucci: ein Idol für jugendlichen Neonazis
Am 13. März 2019 stürmte der damals 17-Jährige Taucci zusammen mit seinem 25- jährigen Freund Luiz Henrique de Castro eine Schule in der Stadt Suzano im Großraum Sao Paulo. Fünf Schüler und zwei Angestellte starben bei dem Amoklauf. Elf weitere Personen wurden verletzt. Als die Polizei wenig später eintraf, erschoss Guilherme zuerst seinen Komplizen und dann sich selbst. Die Polizei stellte außer dem Revolver eine Axt, eine Armbrust, Molotow-Cocktails, eine Bombenattrappe sowie Pfeil und Bogen sicher. Von der Planung der Tat, die eineinhalb Jahre in Anspruch genommen hatte, wusste seine Mutter nichts. Er sei ein ruhiger Junge gewesen, der von seinen Mitschülern gemobbt wurde, erklärte sie in einem TV-Interview. Eine Mitschülerin erinnerte sich später, dass Taucci fasziniert war vom Amoklauf von Colombine zehn Jahre zuvor. Ermittlungen zu den Hintergründen der Tat ergaben, dass Taucci in einem extremistischen Forum im Deep Web praktischen Rat gesucht hatte. „Wir sind mit Fehlern geboren, aber wir werden als Helden gehen“, hatte der Jugendliche geschrieben. Seine Anhänger würden ihm da Recht geben: Tauccis Grab ist mittlerweile zur Pilgerstätte für rechtsaffine Jugendliche geworden ist, die reihenweise dorthin pilgern und Kerzen anzünden. Auch in den sozialen Netzwerken wird der Amoklauf in den Profilen der Mitglieder immer wieder bewundernd erwähnt. Bei jüngsten Ermittlungen gegen Neonazi-Gruppen seien Tauccis Name und sein Foto mehrfach auf getaucht, bestätigt Staatsanwalt Bruno Gaspar, der in der Gewaltverherrlichung und Heroisierung des Attentäters ein „Zeichen für eine kranke Gesellschaft“ sieht. Taucci habe immerhin Schüler und Angestellte einer Schule getötet. Dass er deshalb zum Idol gemacht und zu einer Art Märtyrer erkoren werde, sei äußerst bedenklich. Bei Gruppen, die Taucci für seine Tat bewundern, steht auch Adolf Hitler hoch im Kurs. Mitglieder teilen Bilder und Texte mit rassistischem, homophobem, antisemitischem oder nationalsozialistischem Inhalt und diskutieren öffentlich über Möglichkeiten, ihre Feindbilder tätlich anzugreifen. Hier zeigt sich die Gefahr, vor der Forschende in den letzten Jahren zunehmend gewarnt haben: die Zunahme von Neonazi-Strukturen in Brasilien.
Sonderermittler durchforsten das Internet und verhören zahlreiche Jugendliche
Im Mai letzten Jahres starben drei Kinder und zwei Angestellte bei einem Angriff auf eine Kindertagesstätte in der Stadt Saudades. Festgenommen wurde ein 18-Jähriger, der vermutlich selbst keiner Gruppe angehörte, auf seinem Telefon fand man jedoch Kontakte und Informationen zu mehreren Neonazi-Gruppen, und offensichtlich bestand eine Verbindung zwischen einer Neonazi-Zelle und dem Täter. „Wir haben mehrere Whatsapp-Gruppen durchsucht, in denen Hassnachrichten über Personen anderer Religion und Hautfarbe geteilt werden“, so Staatsanwalt Gaspar. Im Dezember letzten Jahres starteten Gaeco und Zivilpolizei gemeinsam eine großangelegte Ermittlungsaktion und verhörten Jugendliche und Erwachsene, die der Beteiligung an neonazistischen Gruppen verdächtigt werden. Ausgehend von den im Zusammenhang mit den Morden in Saudades gewonnenen Informationen wurden gezielt Gruppen durchsucht, die sich selbst als nazistisch und ultranationalistisch bezeichnen. Die Ermittlungsbehörden gehen davon aus, dass die beschlagnahmten Handys weitere Daten über rechtsradikale Vernetzungen in ganz Brasilien geben werden. In sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten teilen die Mitglieder diskriminierende Inhalte, verbreiten Vorurteile, hetzen gegen ihre Feindbilder, stiften zu Straftaten an und begehen diese letztendlich auch. Dazu Gaspar: „Alle Gruppen sind dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen; auch wenn sich einige ultranationalistische Gruppen separatistisch organisieren und andere sich über ihre rassistische Grundhaltung vernetzen.“ Ihre gemeinsamen Nenner sind Antisemitismus und die Glorifizierung von Adolf Hitler. Hier endet allerdings auch die Vereinbarkeit mit dem Gesetz, denn: „Es besteht zwar das Recht auf Meinungsfreiheit, aber wenn es um Hass oder Gewalt geht, haben wir es mit einer Straftat zu tun“, erläutert Gaspar.
Besorgniserregende Resultate
Die Ergebnisse der Ermittlungen lösten eine Welle der Besorgnis in- und außerhalb Brasiliens aus. Mit Blick auf die steigende Zahl von Neonazi-Gruppierungen und Befürworter*innen der white supremacy warnte Generalsekretär Antonio Guterrez schon Anfang 2020 vor Hassreden und der weit über die Landesgrenzen hinausreichenden Vernetzung. Um gegen den Vormarsch der „Holocaust-Leugner und Geschichtsverdreher“ vorzugehen, brauche es eine globale Allianz, plädierte Guterres.
Die Ansicht, dass die Ideologie der Neonazis in Brasilien einen fruchtbaren Nährboden finden, teilt auch die Anthropologin Adriana Dias: „Das momentane Wachstum der Bewegung erklärt sich aus der steigenden sozialen Ungleichheit. Natürlich erklärt sich damit nicht, warum es neonazistische Gruppierungen gibt, wohl aber, warum sie so schnell wachsen. Vor allem Mitglieder der unteren Mittelschicht verorten die Schuldigen für ihre desaströse finanzielle Situation gern bei Menschen, die staatliche Zuwendungen erhalten (behinderte oder ältere Menschen).“ Statt zu erkennen, dass die Gesellschaft nur versucht, diese Minderheiten für die Rechte zu entschädigen, die ihnen verwehrt bleiben, betrachten die Mitglieder der Nazi-Zellen sie als „Sozialschmarotzer“. Schwarze Menschen und Personen aus dem LGTBQIA-Spektrum sind ihnen aufgrund ihrer rassistischen und homophoben Grundtendenzen sowieso ein Dorn im Auge.
Laxe Strafverfolgung
„Obwohl es gegen das Gesetz verstößt, werden nationalsozialistische Straftaten in Brasilien nur in wenigen Fällen tatsächlich strafrechtlich verfolgt“, beklagt Anthropologin Adriana Dias. Das Fehlen des juristischen Drucks sei ebenfalls ein Faktor, der die Zunahme der Neonazi-Zellen begünstige. Immerhin habe aber die großangelegten Ermittlungen, dazu geführt, dass die Behörden auf das Problem aufmerksam geworden sind: „Die Staatsanwaltschaft wird das Recht auf freie Meinungsäußerung weiterhin kompromisslos verteidigen, und das im Rahmen der Gesetze und mit Respekt für jede einzelne Person.“ Jede Art von Diskriminierung in der heutigen Zeit sei unbedingt abzulehnen: „Es ist erschreckend zu sehen, wie Hitler und die Nationalsozialisten, die für Millionen von Toten verantwortlich sind, von diesen Menschen vergöttert werden.“
Diskussion über Schusswaffen
Laut einer Klassenkameradin hatte Guilherme Taucci davon gesprochen, den Amoklauf an der Columbine High School nachahmen zu wollen. Im Jahr 1999 hatten zwei Schüler im US-Bundesstaat Colorado 12 Schüler*innen und einen Lehrer erschossen, bevor sie Selbstmord begingen. Der Amoklauf in Suzano fachte die Diskussion über die Freigabe von Schusswaffen erneut an. Während Parlamentspräsident Rodrigo Maia sich angesichts des Amoklaufs gegen eine Lockerung der Waffengesetze aussprach, forderte Jair Bolsonaros Sohn Eduardo, die Gesetze rund um den Waffenbesitz zu lockern, denn nur eine ausgeweitete Schusswaffendichte innerhalb der Bevölkerung könne helfen, derartige Gewalttaten zu verhindern.
Was tun?
Der Schulunterricht nehme seinen Bildungsauftrag in diesem Punkt nicht wahr, damit werde eine wichtige Chance vertan. Krieg und Nationalsozialismus müssten im Schulunterricht mehr Raum einnehmen, meint Adriana Dias, denn auch fehlendes Geschichtswissen mache empfänglicher für Nazi-Diskurse. „Viele Menschen denken, der Zweite Weltkrieg habe nur in Deutschland stattgefunden. Sie haben keine Ahnung, dass Hitler gegen die Juden und die gesamte zivilisierte Welt Krieg geführt hat“. Auch die Reden des Präsidenten Jair Bolsonaro, der immer wieder gegen Minderheiten wie die LGBTQIA+ Personen und die indigene Bevölkerung hetzt, stärkten Rechtstendenzen und könnten laut der Wissenschaftlerin ein Grund für das Wachstum dieser Gruppen im Land sein: „Bolsonaros Tiraden legitimieren den volksverhetzenden Diskurs und machen rechtes Gedankengut gesellschaftsfähig.“ Es werde zu wenig getan, um die Ausbreitung rechter Strukturen zu unterbinden. Außerdem gebe es zu wenig psychologische Beratung für Kinder und Jugendliche: „Jugendliche mit ausgeprägten Anpassungsproblemen finden ausgerechnet in diesen Gruppen ein Zuhause. Hier gibt es nur wenige Kinderpsychiater oder Psychologen, mit denen diese Schwierigkeiten bearbeitet werden könnten.“ Viele Erwachsene hätten keine Ahnung, wie wichtig auch die psychische Gesundheit für die Kinder ist. Nach Dias‘ Ansicht müssten Eltern der Gefahr, die eigenen Kinder an extremistische Ideologien zu verlieren, aktiv vorbeugen: „Ich glaube, je mehr wir kommunizieren, je mehr Raum wir lassen für Bildung und Empathie, desto eher erreichen wir, dass Völkermörder nicht als Vorbilder in Betracht gezogen werden.“ Ein offener und kontinuierlicher Dialog sei dafür die wichtigste Voraussetzung.
Übersetzung: Hannah Hefter
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Titelbild: Midia NINJA auf flickr / CC BY-NC 2.0