„Das Volk muss wieder anfangen zu träumen“: Ein Interview mit Lula
Brasilien: Aktuellen Umfragen zufolge könnte Spitzenkandidat Luiz Inácio Lula da Silva die diesjährigen Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang gewinnen. Mit 44 Prozent der Stimmen liegt der ehemalige Präsident weiterhin in Führung. Der Repräsentant der Arbeiter*innenpartei PT nahm Mitte Januar an einer Pressekonferenz mit unabhängigen Medien teil, wo er über die Wahl und seinen wichtigsten Kontrahenten, den amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro, sprach.
Von NPLA / Brasil de Fato
„Wir müssen dem brasilianischen Volk die Freude an den elementarsten Dingen zurückgeben“, erklärte er gegenüber Journalist*innen. Die folgenden Zitate wurden von Brasil de Fato ausgewählt.
Bier, Grillfleisch und Sojasteak
„Die Menschen sollen wieder daran glauben können, dass sie ihr Bier und ihr Grillfleisch bekommen. Diejenigen, die Vegetarier sind wie Gleisi [Hoffmann, der PT-Parteivorsitzende], kriegen dafür ihren Salat und ihr Sojasteak. Wir müssen dem brasilianischen Volk die Freude an den grundlegendsten Dingen zurückgeben.“
Wir müssen die Wahlen gewinnen
„Es gibt keinen Kandidaten und keinen Vize. Ich sage dies, um klarzumachen: Ich kandidiere nicht, um den Posten zu besetzen, sondern um die Wahlen zu gewinnen, und das in einer Zeit, in der es Brasilien unendlich viel schlechter geht als 2003, als ich mein Amt als Präsident antrat. Es ist einfacher, eine Wahl zu gewinnen als zu regieren“.
Alckmin als Präsidentschaftskandidat
„Ich sehe kein Problem darin, wenn ich mich mit Alckmin zusammentun muss, um die Wahl zu gewinnen und dieses Land zu regieren.“ „Ich für meinen Teil habe kein Problem damit, mit Alckmin auf einer Liste zu stehen und ihn als Vizepräsident zu haben. (…) Ich hoffe, Alckmin an meiner Seite zu haben, egal, ob als Vizepräsidentschaftskandidat oder nicht. Ich glaube, sein Hauptanliegen war, sich gegen Bolsonaro und den Dorismo der sozialistischen Partei PSDB zu stellen. Der PSDB unter João Doria steht viel weiter rechts als der PSDB, die in der verfassungsgebenden Nationalversammlung geschaffen wurde“.
Vorbereitungen auf die Wahlen
„Ich mag es, mit Menschen zu sprechen und ihnen zuzuhören. Das werde ich in Zukunft noch viel mehr tun. Ich treffe keine Entscheidung, ohne nachzudenken. Ich bereite mich vor. Ich stehe jeden Morgen um 6 Uhr auf, laufe 6 km, mache mein Krafttraining und eine Menge Beinübungen, damit ich durch dieses Land laufen kann.“
Finanzmarkt
„Ich will bestimmt nicht Präsident werden, um die Probleme des Finanzsystems, der Geschäftswelt und der Menschen zu lösen, die durch die Pandemie reich geworden sind. Ich will nur aus einem einzigen Grund wieder Präsident werden: Ich möchte, dass die Menschen wieder träumen können.“
Besetzung der Ministerien
„Manche Leute wollen, dass ich jetzt schon publik mache, wen ich als Wirtschaftsguru, als Vizepräsidenten und als Justizminister will. Alles zu seiner Zeit (…) Wir werden nicht jetzt schon so reden, als wäre alles in Sack und Tüten, das bringt nur Unglück.“
Beziehungen zu den USA
„Wie ich mit den USA umgehen werde? Respektvoll, so wie sie es meiner Meinung nach verdienen. Aber ich möchte auch mit dem Respekt behandelt werden, den Brasilien verdient. Brasilien ist das bevölkerungsreichste, das wirtschaftlich größte und wichtigste Land Lateinamerikas, und wir sind daran interessiert zu wachsen, zusammen mit allen anderen Ländern Lateinamerikas. Brasilien kann die Rolle des Protagonisten sehr gut füllen, und das alles sollten die USA verstehen.“
Industriepolitik
„Brasilien muss über die Rückgewinnung seiner industriellen Kapazitäten nachdenken. Der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt betrug schon mal 30 Prozent; heute sind es nur noch zehn oder elf Prozent. Die Industrie ist weniger geworden, weil sie es so wollten. Wir müssen sehr gründlich darüber reden, was wir unter einer neuen Industriepolitik verstehen. In welche Märkte können wir eintreten? Was können wir umbauen? Mit unseren Wissenschaftlern, unseren Universitäten und unseren jungen modernen Unternehmern können wir die Industrie nach vorne bringen.“
Die UNO und die neue Global Governance
„Wir müssen eine andere Welt aufbauen, wieder über eine neue Global Governance nachdenken. Die UNO braucht eine Umstrukturierung, eine Verjüngung, um die heutige Geopolitik glaubwürdiger und entschlossener repräsentieren zu können. Was die Fragen zu den Themen Umwelt und Weltfrieden angeht, brauchen wir kollektiv getragene Entscheidungen und keine unilateralen Alleingänge. Die USA besitzen die Macht, Entscheidungen nicht zu respektieren, und das muss ein Ende haben. Die UNO hat den Staat Israel aufgebaut, und nun fehlt ihr der Mut, den palästinensischen Staat aufzubauen.“
Kritik an der Regierung Bolsonaro
„Dieses Land ist ohne jegliche Orientierung. Die Regierung hat sämtliche Programme zum Ausbau der Schulbildung und zur Vereinfachung des Hochschulzugangs vernachlässigt, und auch um die entsprechenden Finanzierungspläne hat sie sich nicht gekümmert. Das einzige, was Bolsonaro interessiert, ist die Frage, wie er die Prozesse und Ermittlungen gegen seine eigene Familie abwenden kann. Und dass er eine öffentliche Konsultation angekündigt hat, bevor er die Impfung von Kindern zulässt, ist eins der absurdesten Dinge überhaupt. Umso mehr in einem Land, das einst in der Welt für seine Impfkultur und die Ausrottung mehrerer Krankheiten bewundert wurde, die nun alle wieder auftauchen.“
Dieser Beitrag erschien auf npla.de, lizensiert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. Originalartikel auf brasildefato.com
Titelbild: Der Expräsident beim Strategie-Seminar, April 2017. Foto: Lula Marques/Agência PT/CC BY 2.0