Aufarbeitung: Fehlanzeige!
Aufklären und Einmischen – Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess: Das antifaschistische und antirassistische Kollektiv NSU-Watch legt eine verheerende Bilanz der fast fünfjährigen Prozessbeobachtung vor. – Sonntag ist Büchertag
Von Bernd Hüttner (kritisch-lesen.de)
Die Literatur zum NSU ist mittlerweile relativ umfangreich. Anliegen dieses Buches ist ein Rückblick auf den Prozess gegen den NSU in München 2013 bis 2018 und die dringende Botschaft, dass der NSU-Komplex mit dessen Ende noch lange nicht aufgeklärt und die „Aufarbeitung“ längst nicht abgeschlossen ist. Unter NSU-Komplex wird hier die Existenz und das Zusammenwirken von organisierten Neonazis, institutionellem Rassismus in verschiedenen Behörden, Alltagsrassismus in der Bevölkerung und die Duldung, wenn nicht gar Förderung von Nazis durch den Verfassungsschutz verstanden. Ohne diesen Komplex wäre das Morden nicht möglich gewesen.
Die Kraft der Zivilgesellschaft
Mit dem Buch „Aufklären und Einmischen – Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess“ hat das Kollektiv NSU-Watch eine lesenswerte Zwischenbilanz einer fast fünfjährigen Prozessbeobachtung und antifaschistischen Arbeit herausgegeben, in der sie auch ihre eigene Arbeit reflektieren. NSU-Watch beobachtete den Prozess, weniger den Untersuchungsausschuss im Bundestag und in verschiedenen Landtagen (von denen aktuell nur noch der in Mecklenburg-Vorpommern arbeitet). NSU-Watch ist eine antifaschistisch-zivilgesellschaftliche Initiative, die sich aus Antifa-Archiven, Zeitschriften und Einzelpersonen aus aktivistischen Strukturen und dem Journalismus zusammenschließt.
Zentral werden sechs wichtige Akteursgruppen näher vorgestellt. Dies sind die Angehörigen und Überlebenden, die sich unter anderem in der Nebenklage organisieren und Gehör verschaffen, dann die Angeklagten, die Anklage (Bundesanwaltschaft), das Gericht selbst, die Zeug*innen und die Öffentlichkeit. So wird der Prozess präzise untersucht, aber nicht nacherzählt.
Unterm Strich
Das Ergebnis nach 438 Verhandlungstagen konnte, trotz ohnehin geringer Erwartungen, nur enttäuschen. Das Netzwerk des NSU wurde nicht beleuchtet, das Agieren der Sicherheitsbehörden systematisch aus dem Verfahren herausgehalten, und die Angehörigen, gegen die beispielsweise jahrelang ermittelt worden war, ein weiteres Mal gedemütigt. NSU-Watch und andere Antifaschist*innen gehen davon aus, dass im Laufe der Jahre über 40 sogenannte V-Leute im Umfeld des NSU platziert waren. Die Interessen und Perspektiven der Opfer und der Angehörigen kommen auf den über 3.000 Seiten des Urteils nicht vor. Deren Berücksichtigung wie auch alles an erreichter Aufklärung wurden vor allem durch öffentlichen Druck und die juristische und politische Arbeit der Nebenklage erreicht.
Durch die größtenteils ehrenamtliche Arbeit der Initiative konnte zwar keine wirkliche Aufklärung im rechtlichen Sinne erreicht, aber ein Gegengewicht gesetzt werden, das die liberale Öffentlichkeit und deren Medien motivierte und unter Druck setzte, zu berichten und selbst zu recherchieren. NSU-Watch hat einen enormen Fundus an Wissen zusammengetragen, auf den bei der Beobachtung von zu befürchtenden zukünftigen Prozessen zurückgegriffen werden kann.
Die klare Sprache erleichtert auch denjenigen den Einstieg in die Thematik, die sich noch wenig mit dem NSU-Komplex beschäftigt haben. Die Forderungen nach Aktenfreigabe und „Aufklären und Einmischen“, und dass mit dem im Moment immer noch nicht rechtskräftigen Urteil kein Schlussstrich gezogen werden darf, ist immer noch aktuell. Es ist bitter, zu begreifen, wie das öffentliche und behördliche Desinteresse an Aufklärung die Nazis in ihrem Denken und Handeln ermuntert. Die Morde in Halle und Hanau, wie auch der an Walter Lübcke im Juni 2019 sind auch ein Resultat solcher Gerichtsurteile.
NSU-Watch 2020: Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess.
Verbrecher Verlag – 232 Seiten
ISBN: 9783957324221
Dieser Beitrag wurde am 12.10.2021 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer_innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.
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