EU-Mercosur-Handelsabkommen: kaum ökonomische Vorteile, aber beträchtliche ökologische und soziale Risiken
Ein nüchterner Blick auf die verfügbaren Folgenabschätzungen zeigt, dass die wirtschaftlichen Effekte des EU-Mercosur-Abkommens gering sind. Die Beschäftigungseffekte für die EU und Österreich können sogar negativ ausfallen. Die zu erwartenden Umwelteffekte, vor allem der Verlust von Waldflächen im Amazonasgebiet, werden unterschätzt. Angesichts der Herausforderungen der Klima- und Umweltkrise stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es nicht eine gänzlich andere EU-Handelspolitik braucht, die gezielt nachhaltige Produktionsstrukturen fördert.
Von Bernhard Tröster und Werner Raza (A&W-Blog)
Risiken des EU-Mercosur-Abkommens zu wenig beachtet
Im Juni 2019 verkündeten die EU und die Mercosur-Ländergruppe (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) die politische Einigung auf ein Assoziierungsabkommen (EUMAA), inklusive einer umfassenden Handelskomponente. Obwohl über zwei Jahrzehnte verhandelt wurde, bleibt es aus handelspolitischer Perspektive ein relativ traditionelles Abkommen. Das Abkommen konzentriert sich auf die Beseitigung von Zollschranken, nur sensible landwirtschaftliche Produkte auf EU-Seite sollen durch Quoten geschützt werden. Die Befürworter*innen erwarten mehr Wohlstand für beide Seiten durch weitere Spezialisierung, oder vereinfacht ausgedrückt: durch mehr Austausch von Mercosur-Rindfleisch und Soja gegen europäische Autos und Maschinen.
Doch auch unter optimistischen (und teils unrealistischen) Annahmen sind die möglichen Gewinne für alle Beteiligten sehr gering, wie unsere detaillierte Analyse der empirischen Studien zur Abschätzung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen (sogenannte Sustainability Impact Assessments – SIA) zeigt. Darunter ist auch die von der Europäischen Kommission bei der London School of Economics (LSE) beauftragte Folgenabschätzung. Der von dieser Studie geschätzte Anstieg des BIPs der EU um 0,1 Prozent entspricht einem Einkommenszuwachs von 2,50 Euro pro Kopf pro Jahr bis 2032. Diese Gewinne sind aber nicht gleich verteilt. In bestimmten Sektoren wie der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie in der EU und Österreich sind Einkommens- und Beschäftigungsverluste nicht ausgeschlossen.
Zudem werden viele Risiken in diesen Studien nicht oder kaum beachtet. So müssen die Mercosur-Staaten noch mehr Agrargüter exportieren, um die Produktionsverluste in der lokalen Industrie aufgrund vermehrter Importe aus der EU auszugleichen. Verstärkte Entwaldung im Amazonas und Druck auf die dort lebenden indigenen Gemeinschaften und Kleinbauern wären die wahrscheinliche Folge. Gerade im Kontext der Klimakrise, des Verlusts der Biodiversität und der Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation in beiden Regionen erscheint die Vertiefung bestehender, ungleicher Handels- und Produktionsstrukturen zwischen der EU und dem Mercosur kontraproduktiv. Auch der Versuch der EU, durch nachträgliche Vereinbarungen die problematischen Umwelteffekte des Abkommens abzumildern, kann an dieser grundsätzlichen Problematik nichts ändern.
Die wichtigsten Schlussfolgerungen aus den untersuchten Folgenabschätzungen
Alle Studien erwarten geringe Wohlfahrtsgewinne für beide Parteien, liefern aber wenige oder keine Details zu den zugrunde liegenden Daten und Simulationen: Die analysierten Folgenabschätzungen verwenden zumeist sogenannte numerische allgemeine Gleichgewichtsmodelle (CGE-Modelle). Es mangelt jedoch an einer transparenten Herleitung. Es werden wenig oder gar keine Angaben zu Simulationsdetails oder verwendeten Daten und Parametern gemacht. Ohne diese Details können die ausgewiesenen Vorteile des EUMAA nicht von Dritten validiert werden und bleiben Ergebnisse aus einer „Blackbox“.
Zum Beispiel werden in der LSE-Studie kaum Details zum Basisszenario angegeben, auf das sich alle Ergebnisse der Studie beziehen. Zudem werden die Ergebnisse und dahinterliegenden Annahmen kaum diskutiert. So weist die LSE-Studie eine Zunahme des bilateralen Handelsdefizits der Mercosur-Länder von 10 Mrd. US-Dollar auf 45 Mrd. US-Dollar aus, behauptet aber gleichzeitig, dass auch die Mercosur-Staaten insgesamt einen positiven Netto-Handelseffekt von 10 Mrd. US-Dollar erzielen können. Ein solches Ergebnis erscheint unrealistisch und wird von der Studie nicht weiter erklärt.
Die Auswirkungen auf das gesamte reale BIP sind gering, aber Sektoren sind unterschiedlich betroffen: Die LSE-Studie erwartet für die EU einen Anstieg des BIP um +0,1 Prozent bzw. 15 Mrd. Euro bis 2032 – dies entspricht 2,50 Euro pro Kopf und Jahr. Auf Sektorebene verteilen sich die Gewinner- und Verlierer*innen wie erwartet: Die Agrar- und Nahrungsmittelwirtschaft schrumpft in der EU (bis zu -1,2 Prozent im Rindfleischsektor) und gewinnt vor allem in Brasilien und Argentinien. Die verarbeitende Industrie in der EU profitiert leicht, während im Mercosur die Sektoren der verarbeitenden Industrie deutlich schrumpfen. Für Dienstleistungen sieht die LSE-Studie deutliche Vorteile für die Mercosur-Länder, basierend auf der Annahme, dass das EUMAA die Handelskosten aufgrund von Regulierungen zugunsten des Mercosur einseitig senken wird. Allfällige regulatorische Anpassungskosten für die Mercosur-Staaten werden hier nicht berücksichtigt.
Die ausgewiesenen Beschäftigungseffekte sind für die EU negativ, aber es fehlen wiederum die zugrunde liegenden Modellannahmen: Die sektoralen Beschäftigungseffekte der LSE-Studie ergeben einen Rückgang von -0,06 Prozent oder umgerechnet 120.000 Arbeitsplätzen in der gesamten EU, insbesondere in der Landwirtschaft (-16.100) und im Lebensmittelsektor (-33.800) sowie im Dienstleistungssektor (-103.400). In der verarbeitenden Industrie der EU würde die Beschäftigung steigen (+33.000). Im Allgemeinen gehen die Studien nicht auf mögliche Anpassungskosten durch temporäre Arbeitslosigkeit und Umschulungen ein und vernachlässigen mögliche negative Auswirkungen auf die Beschäftigung in langfristiger Perspektive.
Effekte für einzelne EU-Mitgliedsstaaten sind aus den CGE-Modellschätzungen nicht verfügbar, aber Effekte für Österreich sind höchstwahrscheinlich gemischt: Keine der CGE-Modellbewertungen zeigt Effekte für die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, obwohl sich deren Handelsprofile gegenüber den Mercosur-Staaten deutlich unterscheiden. Eine von uns durchgeführte Einschätzung der Beschäftigungseffekte der LSE-Ergebnisse für Österreich ergibt Beschäftigungsverluste in der Landwirtschaft (-60) und in der Nahrungsmittelindustrie (-500). Dem stehen moderate Zuwächse in den Industriesektoren (+1.100) gegenüber. Zusammen mit den Dienstleistungen zeigt sich ein Beschäftigungsverlust für Österreich von ca. 1.200 Arbeitsplätzen.
EUMAA wird die traditionellen Spezialisierungsmuster vertiefen, aber die Modellergebnisse reichen nicht aus, um die Auswirkungen vollständig zu beurteilen: Für die Mercosur-Staaten werden höhere Produktion und Exporte von Agrar- und Nahrungsmittelprodukten (insbesondere Soja, Fleisch, Ethanol) erwartet, während die meisten Studien Produktionsverluste für die verarbeitende Industrie ausweisen. Die Anpassungskosten in den Mercosur-Ländern werden also von Industriearbeiter*innen zu tragen sein, die unter Arbeitsplatzverlusten und Lohndruck leiden werden, und von den lokalen, meist indigenen Gemeinschaften in dem Maße, in dem eine expandierende Agrarproduktion sich indigenes Land für die landwirtschaftliche Nutzung aneignet.
Im Falle der EU wird die Importkonkurrenz von Mercosur-Produkten wie Rindfleisch, Zucker und anderen landwirtschaftlichen Gütern den Strukturwandel in der EU-Landwirtschaft verstärken und den wirtschaftlichen Druck vor allem auf die kleinbäuerliche, familiengeführte Landwirtschaft erhöhen. Die Ergebnisse der CGE-Modelle beziehen wichtige Aspekte, v. a. die aktuellen Zoll- und Quotenliberalisierungen oder Details in der Produktion oder dem Handel bedeutender Produkte, nur unzureichend mit ein, um das tatsächliche Ausmaß der Auswirkungen in den landwirtschaftlichen Sektoren aufzuzeigen.
Folgenabschätzungsstudien behaupten begrenzte Umweltauswirkungen, aber die Analyse ist unvollständig: Die LSE-Studie geht nur von geringen Veränderungen bei den CO2– und anderen Treibhausgas-Emissionen aufgrund von EUMAA aus. Zusätzliche CO2-Emissionen aus dem Transportdienstleistungssektor oder mögliche Emissionen aus Landnutzungsänderungen werden jedoch nicht berücksichtigt. Die Argumentation der LSE-Studie, dass eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion in den Mercosur-Ländern nicht zwangsläufig mit mehr Entwaldung verbunden sein muss, wird weder durch die seit 2018 wieder stark steigenden Entwaldungsraten in der Amazonasregion noch durch andere Studien unterstützt. Die LSE-Studie geht auf mögliche Unsicherheiten bezüglich der Umweltauswirkungen nicht ein.
Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung (PCSD) entscheidend für die Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks von EUMAA und anderen Handelsabkommen: Die Entwaldung und damit die Klimaeffekte sowie andere Umwelteffekte des EUMAA werden von der zukünftigen Entwicklung insbesondere der Fleisch- und Sojaproduktion in den Mercosur-Ländern angetrieben werden. Letztere wird wiederum von der zukünftigen Entwicklung der globalen und EU-Nachfrage nach diesen Produkten abhängen. Durch die Erleichterung des Marktzugangs und die Senkung der Handelskosten tragen Abkommen wie das EUMAA zur Vertiefung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells in den Mercosur-Ländern bei, in denen das Wirtschaftswachstum zunehmend von der Ausweitung der landwirtschaftlichen Massenproduktion und dem Abbau von mineralischen Rohstoffen abhängt.
Fazit: Alternative EU-Handelsagenda nötig
Die Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Abkommens verlangen von der EU, ihren CO2-Fußabdruck bis 2050 drastisch zu reduzieren. Tatsächlich hat die EU in den letzten 30 Jahren zunehmend darauf zurückgegriffen, dies durch Carbon Leakage zu erreichen, d. h. durch den Import von Gütern, in denen immer mehr Treibhausgase enthalten sind. Diese entsprechen bereits rund 20 Prozent der in der EU insgesamt verursachten Emissionen. Das EUMAA wird diesen Prozess mit hoher Wahrscheinlichkeit fortsetzen, da alle Umweltbestimmungen des Abkommens nur Absichtserklärungen sind und keiner sanktionsbewehrten Streitbeilegung unterliegen.
Wenn es zu den strategischen Interessen der EU gehört, die Klimaziele des Pariser Abkommens zu erreichen und die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene umzusetzen, wird eine tiefgreifende Überarbeitung des Abkommens notwendig sein. Ein solcher PCSD-orientierter handelspolitischer Ansatz der EU würde den Handel mit nachhaltigen Produkten fördern und nachhaltige Produktionsmodelle in den Partnerländern unterstützen.
Dieser Beitrag wurde am 09.11.2021 auf dem Blog Arbeit & Wirtschaft unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer_innen eine freie Bearbeitung, Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen.
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