Lebende Werbetafeln
Zwei Podcaster liefern eine ideologiekritische Betrachtung der aktuellen Medien- und Konsumwelt im Spätkapitalismus. – Sonntag ist Büchertag
Von Thore Freitag (kritisch-lesen.de)
Es ist längst nicht das erste Buch über die postfordistische Konsumgesellschaft. Und doch wurde das Buch „Influencer“ der Autoren Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen ein Bestseller. Womöglich, weil eine Deutung des spezifischen Phänomens Influencing bisher einfach fehlte. Oder aber, weil den populären bis peinlichen Werber*innen inzwischen eine immer größere Bedeutung im digitalen Kapitalismus beigemessen wird. Das Phänomen des Influencing ist längst kein kreativ-kapitalistisches Strohfeuer mehr – es gibt Millionen solcher Kanäle in den sozialen Netzwerken.
Die Medien- und Konsumwelt lebt von Geschwindigkeit und ist, wie auch unsere Lebensweise, von Wandel geprägt. Über eine der „wichtigsten Sozialfiguren“ (S. 7) dieses Wandels schreiben die beiden Autoren in einer kurzen und beispielreichen Analyse dieser gar nicht mehr so jungen Werbeform. Das ist auch schon die erste Lektion des Buches, die banal zu sein scheint: Konsument*innen werden nicht mehr durch Werbung und Kaufanreize – mal mehr, mal weniger subtil – in ihren Bedürfnissen beeinflusst. Es handelt sich um digitales Marketing per Du.
Überall Konsument*innen, nirgends Gesellschaft
Im Zeitalter der sprechenden Oberflächen hat das Marketing die klassische Werbung in der Zeitung oder im TV längst hinter sich gelassen und sucht sich stattdessen den Menschen als Werbekörper. Ständig spülen die sozialen Medien ihren Nutzer*innen Videos in den Smartphone-Feed, in denen Influencer*innen Produkte des täglichen Bedarfs testen und bewerben oder in den Videos gleich einen bestimmten Lifestyle anpreisen. Werbebotschafter*innen sind keinesfalls neu, man denke an Testimonials wie das Model Heidi Klum. Allerdings haben sich das Nutzer*innenverhalten und der Werbeort verändert. Mittlerweile ziehen auf den Internetplattformen Youtube oder Instagram die Quasi-Dauerwerbesendungen vieler Influencer*innen Millionen von Follower*innen an. Das Prinzip des Influncing besteht darin, ein scheinbar privates Ich mit möglichst viel Werbung auszustaffieren. Gerade in ihrer scheinbaren Authentizität und Nahbarkeit sehen die Autoren in den Influencer*innen eine gesellschaftliche Gefahr und sogar eine Bedrohung für Demokratie und aufklärerische Werte. Rund um die Uhr scheint das Internet von Influencer*innen zugemüllt zu werden. Es ist nun Werbung, die geklickt und konsumiert und nicht mehr nur irgendwie ertragen wird – wie etwa die Unterbrechung zwischen der Doppelfolge der eigenen Lieblingsserie.
Mit einem Klick in die Barbarei?
Tatsächlich erreichen die erfolgreichsten Influencer*innen mit einem Werbepost mehr Menschen als das bekannteste Boulevardblatt Deutschlands. Insofern sind die Influencer*innen als Sozialfiguren dieser Zeit ernstzunehmen. Sicher ist an dieser Stelle zu hinterfragen, ob die Kanäle der Influencer*innen nicht dennoch anders wahrgenommen werden. Immerhin konsumiert sie ein Teil der Follower*innen auch bewusst als das, was es oft ist: pure Unterhaltung oder großer Unfug. Es tritt hier sicherlich kein besonders freies und vernünftiges Bewusstsein hervor, aber Ursache und Wirkung dürfen nicht verwechselt werden. Die oft bemühte These des kulturellen Verfalls durch die Massenkultur muss sich immer auch von neuem an der Wirklichkeit und im geschichtlichen Vergleich messen. Die Kulturindustrie-These büßt – zu oft oder zu heiß erwärmt – an Radikalität ein. Lehrreicher ist das Buch, wenn es anhand gegenwärtiger ökonomischer Umbrüche unserer Gesellschaft das Aufkommen des Influencing erklärt. Denn die Umstrukturierung unserer Medien- und Konsumlandschaft folgt auch nur den immer gleichen ökonomischen Gesetzen der Verwertung. Durch den Neoliberalismus und den Aufbruch in die Digitalität wurde die Konsumwelt auf ein neues Plateau gehoben. In diesem Sinn ist das Buch ebenso als eine durchaus ernste Analyse der ökonomischen Funktion des Influencing zu lesen, nicht bloß als eine ideologiekritische Spielerei. Im Anschluss an Wolfgang Fritz Haug gelingt den beiden Autoren eine „Kritik der Warenästhetik“ im digitalen Kapitalismus. Die Influencer*innen haben ihren Platz mitten in der großen Herausforderung des Kapitalismus: Es muss weiter Wachstum generiert werden. Der Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre ist lange passé. Es droht eine Krise für das auf Wachstum ausgerichtete System. Indem er die Verwertung anfeuert, möchte der Kapitalismus sein eigenes Ende noch allzu lange hinauszögern. Die Influencer*innen erweisen sich hierbei als nützlich, indem sie mit ihrer Werbung Bedürfniss schaffen und ihre konsumistische Befriedigung antreiben.
Konsum in der Krise
Die Bedrohung der Gesellschaft durch kapitalistisch erzeugten Überfluss ist mit dem drohenden Klimakollaps gegenwärtig wie noch nie. „Die Maschine rotiert auf der gleichen Stelle“, erklärten Adorno und Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ – und meinten damit eigentlich die Massenkultur. Doch so spielt es sich auch im Kapitalismus ab, sogar noch drastischer. Die Maschinen graben immer weiter, schneller und tiefer. Der Mensch erschließt sich bedrohlich viel Landmasse. Auch die Influencer*innen halten sich in diesem großen Widerspruch auf. Sie bewerben luxuriöse Ferienresorts in den Vereinigten Emiraten und befeuern die imperiale Lebensweise. Mit einem Post zu Nachhaltigkeit am „Earth Day“ ist dann genug für das Klima getan.
Der Neoliberalismus kapert Forderungen sozialer Bewegungen oder vermag sie zu entschärfen, indem er die Klimafrage beispielsweise durch das Label „Nachhaltigkeit“ konsumierbar macht. Klimagerechtigkeit wird sich aber nicht über individuelle Kaufentscheidungen herstellen lassen, sondern nur durch politische Kämpfe. Dafür plädieren die Autoren leider nicht, aber sie machen deutlich, dass der Kapitalismus sich nicht grün anstreichen lässt. Auch beim Thema Diversity sehen Schmitt und Nymoen bloß eine „unheilige Allianz aus Kapitalinteressen und kultureller Progressivität“ (S. 144). Das mag für den sich progressiv gebenden Neoliberalismus stimmen, die sozialen Medien dürfen dennoch nicht als Ort der Rückständigkeit abgeschrieben werden. Denn obwohl von riesigen Tech-Konzernen betrieben, sind Plattformen in der Lage, linke Diskursmacht herzustellen. Die Linke darf das Internet also nicht ablehnen, sondern muss dort möglichst wieder Boden unter den Füßen gewinnen. Es wird weiter zu klären und auszuprobieren sein, wie die Linke gerade über die sozialen Medien Hegemonie erlangen kann, statt sich in Rechthaberei oder bloßer Klientelpolitik zu verirren. Sie hat dabei nichts zu verlieren. Sie hat die digitale Welt zu gewinnen.
Ole Nymoen / Wolfgang M. Schmitt 2021:
Influencer. Die Ideologie der Werbekörper.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-07640-8.
191 Seiten. 14,00 Euro.
Zusätzlich verwendete Literatur
- Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Suhrkamp Verlag. Berlin 2009.
- Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer Taschenbücher. Frankfurt a. M. 2008.
Dieser Beitrag wurde am 12.07.2021 auf kritisch-lesen.de, Kooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer_innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.
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