Wenn man einfach zu viel fühlt
Oskar Schnell ist intelligent, voller Fantasie, witzig, schlagfertig, Besitzer einer eigenen Visitenkarte, Erfinder und tieftraurig. Der neunjährige Protagonist von Jonathan Safran Foers Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ ist erfrischend anders. Und seine Geschichte ebenso. – Sonntag ist Büchertag
Von Eva Unterrainer
Als sein Vater beim Angriff auf das World Trade Center ums Leben kommt, macht Oskar sich auf die Suche nach dem passenden Schloss für einen Schlüssel, den er im Arbeitszimmer gefunden hat: furchtlos, voll motiviert und mit einer kindlichen Offenherzigkeit, die ihm die ein oder andere Tür öffnet. Auf seinem Weg begegnet er den unterschiedlichsten Personen und Schicksalen und schließt einige Bekannt-, wenn nicht sogar Freundschaften.
Oskars Abenteuer, ausgelöst durch seine tiefe Trauer und den Wunsch, dem Vater weiterhin nahe zu sein, ist jedoch nicht das einzige im Roman. Zu einem großen Teil wird auch die Geschichte von Oskars Großeltern mit der Hilfe von vielen, vielen Briefen erzählt. Sowohl seine Oma, zu der Oskar ein sehr gutes Verhältnis hat, als auch sein schweigender Großvater, welcher vor langer Zeit Frau und das ungeborene Kind verlassen hat, sind während des Zweiten Weltkriegs von Dresden nach New York geflüchtet. Traumatisierende Momente, die nie verarbeitet wurden und sie so tagtäglich verfolgen, gestalten ihre Beziehung sehr kompliziert und mit vielen Regeln versehen. Wie sich die Vergangenheit auf die Gegenwart auswirkt und wie sich manche Dinge dennoch wiederholen, auch wenn man genau das um jeden Preis verhindern will, zeigt sich, als die beiden Handlungsstränge auf einmal ineinander verschwimmen.
Jonathan Safran Foer verwebt die Geschichten dreier Generationen so geschickt miteinander, dass oft zunächst gar nicht klar ist, wer gerade erzählt, obwohl sich die Stimmen der unterschiedlichen Protagonist_innen in Ausdrucksweise, Eigenheiten und Schreibstil sehr nachvollziehbar und realistisch voneinander unterscheiden. „Extrem laut und unglaublich nah“ berührt so auf vielen Ebenen. Jonathan Safran Foer überschreitet dabei aber nie die Grenze zu Kitsch oder Verzweiflung.
Oskars Geschichte wird so sensibel und detailliert erzählt, dass jede seiner Gefühlsregungen nachvollziehbar ist. Neben den Briefen der Großeltern enthält das Buch auch Zeitungsartikel, Briefe von Oskar an berühmte Persönlichkeiten oder Wissenschaftler und Kritzeleien. Einschneidende Momente werden mit ganzseitigen Fotos zusätzlich emotional verstärkt. Man begibt sich gerne mit Oskar auf seine Reise und das ein oder andere Mal kann man auch gar nicht anders, als zu lachen, während man auf der nächsten Seite schon wieder tiefen Herzens mit Oskar leidet.
„Extrem laut und unglaublich nah“ ist ein Buch, das es sicher schafft, zu berühren – auf eine sehr experimentelle Weise. Wer Lust auf schnelle Dialoge, eine besondere Sprache und das gewisse Etwas hat, wird von diesem Roman sicher nicht enttäuscht.
Jonathan Safran Foer – Extrem laut und unglaublich nah
FISCHER Taschenbuchverlag – 2007, 480 Seiten
ISBN: 978-3-596-16922-1
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Titelbild: Eva Unterrainer
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