Den Kämpfen, den Freuden, der Solidarität
Zum Gedenken an den 1. Mai.
Von Andreea Zelinka
Der 1. Mai ist ein Kampf- und Festtag, der international gefeiert wird und in vielen Ländern mittlerweile sogar ein gesetzlicher Feiertag geworden ist. In Österreich wurde der 1. Mai 1890 zum ersten Mal begangen und war eine der größten Demonstrationen, die das Land je gesehen hat. Am Prater versammelten sich die Menschen zu Hunderttausenden, um ihr Recht auf Freiheit zu feiern, die Arbeit nieder zu legen und ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. In jenen Tagen erkämpften sie durch Streiks den 8-Stunden-Tag. Nicht ohne Grund bezeichnete Emma Goldman den Generalstreik, „als den höchsten Ausdruck ökonomischen Bewusstseins der Arbeiter*innen.“ (Der Anarchismus und seine wirkliche Bedeutung, 1911)
Die Zweite Internationale traf sich vom 14. bis 20. Juli 1898 in Paris, zum 100. Tag des Sturms auf die Bastille. 1890 war der 1. Mai bereits als Manifestationstag festgelegt worden, acht Jahre später wurde er als internationaler Kundgebungs- und Demonstrationstag beschlossen. Niemand erwartete die weltweite Reaktion darauf. Die Maikundgebungen waren Ausdruck eines Massenbedürfnisses. Den Regierenden gefiel es nicht besonders, dass Arbeiter_innen Forderungen stellten und nach Freiheit strebten. Die Märsche galten als Appell für Menschenrechte und Menschenwürde, für Frieden und Kooperation, für Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit. Trotzdem sie friedlich verliefen, wurden viele Arbeiter_innen dafür verfolgt, nahmen sie am 1. Mai teil, gekündigt und sogar abgeschoben.
Auch der Faschismus feierte den Tag der Arbeit. Hitler machte ihn zu einem gesetzlichen Feiertag. Aber da ging es nicht mehr um internationalen Frieden und Versöhnung, Kooperation und Freiheit.
Wir dürfen den 1. Mai nicht vergessen. Wir dürfen nicht vergessen, wofür er steht und was es gekostet hat, ihn zu bekommen. Wir dürfen nicht vergessen, was erreicht wurde und was noch zu erreichen ist. Wir wissen, dass die systemrelevante Arbeit am schlechtesten bezahlt und sie sozial als die niedrigste aller Arbeit angesehen wird. Den Feminist_innen ist das überhaupt schon lange klar, sonst wäre Care-Arbeit nicht noch immer unbezahlt.
Im Gedenken
Hinter dem 1. Mai steckt auch eine Geschichte, die für gewöhnlich weniger Beachtung findet, nämlich die “Haymarket Affaire”. Der 1. Mai ist somit auch ein Gedenktag an die sechs Anarchisten, die ihr Leben für die Arbeiter_innenbewegung gaben. In einer Holzkiste fand ich eine Broschüre von Paul Avrich. Der US-amerikanische Historiker versammelt darin fast alle Gedenkreden von Voltairine de Cleyre (1866-1912), die sie über 20 Jahre lang, fast jeden November ab 1895, meistens in Chicago, aber auch in Boston, New York, Philadelphia und Detroit, hielt. Ein Glücksgriff. Nicht nur, weil ich durch die Lektüre viel über die Haymarket Affaire und die damalige Stimmung gelernt habe, sondern auch, weil die Reden der Anarchistin de Cleyre mir mit poetischen und starken Worten anarchistische Ideen vermittelten.
1886 gab es Massenstreiks in verschiedenen Fabriken in Chicago, es wurde für den 8-Stundentag und eine Lohnerhöhung gekämpft. Bei einem dieser Streiks vor den McCormick Reaper Works am 3. Mai 1886 schossen Polizisten in die Massen, töteten mehrere Menschen und verwundeten weitere. Der Fabrikleiter reagierte mit dem beliebten Mittel der Massenaussperrung während Lohnkämpfe. Er schloss die Fabrik und sperrte die Arbeiter_innen im wahrsten Sinne des Wortes aus, d.h. es gab auch keine Löhne mehr. (Für solche Arbeitskämpfe ist eine gute Streikkassa unabdinglich. Bsp. 2013 Massenaussperrung der dänischen Lehrer_innen)
Daraufhin versammelten sich Anarchist_innen tags drauf zum friedlichen Protest am Haymarket. Kurz bevor die Versammlung sich auflösen wollte, erschien ein Trupp Polizisten, der den Protest störte. Samuel Fielden war gerade dabei seine Rede zu beenden, bat um etwas Geduld und wies darauf hin, dass sich die Protestierenden friedlich verhielten. In diesem Moment zerbarst eine Bombe aus dem Nichts, ein Polizist starb, siebzig wurden verletzt, sechs starben später. Die Polizisten begannen zu schießen, mehr Menschen starben. Bis heute ist nicht bekannt, wer die Bombe geworfen hatte.
Anarchie ist vor Gericht
Die acht Männer, die vor Gericht gestellt wurden, waren jedenfalls nicht dafür verantwortlich. Albert Parsons, August Spies, George Engel, Adolphe Fischer, Louis Lingg, Samuel Fielden, Oscar Neebe und Michael Schwab. Sechs von ihnen waren an dem Abend nicht dabei gewesen. Ohne Beweise wurden sie alle für schuldig erklärt, sieben zum Tode verurteilt, einer zu 15 Jahren Gefängnisstrafe. Lingg begang am 10. November 1887 vemeintlich Selbstmord in seiner Zelle. Am 11. November 1887 wurden Parsons, Spies, Engels und Fischer gehängt. Schwab und Fielden wurden begnadigt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Ja, sie waren Märtyrer. Sechs Jahre später wurden Fielden, Neebe und Schwab von Gouverneur John P. Altgeld begnadigt, da er feststellte und einräumen musste, dass es eindeutig keine Beweise für ihre Verurteilungen gegeben hatte.
Wer waren diese Männer? Parsons war Herausgeber von Alarm und Sprecher der Arbeiter_innenbewegung in Chicago, am 4. Mai war er mit Frau und Kind beim Protest gewesen. Fischer startete die Arbeiter-Zeitung, Spies war Redakteur, Engels ein Rebell, auch Fielden sprach oft auf Arbeiter_innentreffen, Schwab schrieb Artikel, Neebe hatte eine rote Fahne zu Hause und organisierte Gewerkschaftstreffen und Lingg wusste bis zum darauffolgenden Tag nicht einmal, dass ein Treffen stattgefunden hatte. Alle außer Parsons wurden verhaftet. Dieser stellte sich freiwillig, so überzeugt war er, das Gericht würde seine Unschuld anerkennen. Doch Richter Gary und Staatsanwalt Grinnel „had determined to hunt Anarchy to death“.
„The State´s Attorney boasts that he will have the jury packed to kill; boasts openly in the court that though these men are being tried legally for murder, or conspirancy to murder, it is Anarchy which is on trial. It is a political opinion which is to be hanged, here in this astounding Republic, which sprang into existence as the expression of the free political opinion.“ (The first Mayday. The Haymarket speeches 1895-1910, Voltairine de Cleyre, sowie alle weiteren Zitate.)
Die Männer wurden dafür gehängt, Anarchisten zu sein. Die Bombe war ein Vorwand, um die anarchistische Bewegung zu schädigen, da sie als Gefahr für die machthabenden Institutionen galt. Es wurde klar, dass sie erhängt würden. Doch anstatt alles zu versuchen ihre Leben zu retten – für Parsons hätte es eine Möglichkeit gegeben – sahen sie ihren Tod als ein Mittel, um ihre Ideen weiter zu verbreiten. Denn sie liebten ihre Ideen mehr als ihre Leben. So rief Fischer aus: „This is the happiest moment of my life!“
„Your fear-word, our fire-word, Anarchy“
Die Reden von de Cleyre sind eine Quelle, um anarchistische Ideen kennenzulernen und zu verstehen. Stück für Stück erfährt eins mehr über die Theorien, die mit der Geschichte der Arbeiter_innenbewegung verwoben sind. In ihrer Rede vom 11. November 1899 in Chicago stellt sie klar, dass Eigentum nicht das Ende der menschlichen Geschichte und Vorstellungskraft ist. Für sie könne nur ein partizipativer Kommunismus zu sozialem Wohlstand führen, der ein Leben für alle ermögliche, ein Dasein, mehr als die bloße Existenz und der Kampf ums Überleben. Die verurteilten Anarchisten kämpften gegen die Verschwendung menschlichen Lebens und gegen eine Wirtschaft, die Anhäufung und Profit an erste Stelle stellte. Sie kämpften für ein selbstbestimmtes Leben, das den Arbeiter_innen ermöglichte sich auszudrücken und zu entfalten. Daher fragte de Cleyre am 17. November 1900 in Philadelphia:
„If for this paltry thing, an hour less of labour, a small wage-increase, men are shot upon the road, what will the answer be when they demand all this?“
Gute Frage. Denn die Arbeiter*innen kämpften nicht – und das hätten sie sehr wohl tun können – für eine Welt ohne Arbeit, sondern einzig für bessere Arbeitsbedingungen, um ein Leben in Würde führen zu können. Selbstverständlich gingen die Anarchist_innen noch einen Schritt weiter, sie wollten die Arbeit abschaffen, den Kapitalismus abschaffen, die Macht der Kapitalist_innen und alle Herrschaftsverhältnisse noch dazu. Die Regierenden behaupteten daher, Anarchist_innen riefen zu Gewalt auf.
„It is all false that the hanging was done because of their preaching violence; it is not violence the ruling classes object to; for they themselves rule by violence, and take the strong hand at every door. It is the social change they fear, the equalization of men.“
Für die Forderung, dass unter Menschen alle Menschen seien, sind viele gestorben, nicht nur die erhängten Anarchisten. De Cleyre sagt deutlich, dass wir niemals den Preis, den die Toten gezahlt haben, vergessen dürfen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Dinge, die unsere Welt heutzutage lebenswert machen, auf Kämpfe zurückzuführen sind, die leider nicht nur mit Worten gekämpft werden konnten. Daher weist de Cleyre darauf hin, dass wir die Arbeit der Revolutionäre in Ehren halten und sie aufrecht erhalten sollen: „picture it; work for it; live for it if you can; die for it if you must“.
Aus Fehlern lernen
In ihrer Rede vom 11. November 1901 in Chicago erzählt de Cleyre davon, wie sie auf die Nachricht des Bombenanschlags reagierte. Sie gibt zu, dass sie selbst die Anarchisten verurteilt hatte und dafür war, sie hängen zu lassen, obwohl sie bis dahin nie an Todesstrafen geglaubt hatte. Sie gibt zu, dass sie bis dahin nicht gewusst hatte, was Anarchismus war, sie der Verbindung mit Chaos und Mord und den Medien Glauben schenkte und sie mit ihrer Anschuldigung die acht Männer abermals verurteilte, sie ebenso ermordete. Ihre Meinung änderte sich jedoch, als sie die Arbeitsbedingungen jener Zeit kennenlernte:
„And I saw in the lead works how men were poisoned; and in the sugar refineries how they went insane; and in the factories how they lost their decency; and in the stores how they learned to lie; and I knew it was slavery made them do all this. I knew the Anarchists were right – the whole thing must be changed, the whole thing was wrong – the whole system of production and distribution, the whole ideal of life.“
Letztlich wärmte die Kohle, die der Bergarbeiter förderte, vielmehr sie, die keinen Finger für sie rührte, als den Bergarbeiter selber – de Cleyre erkannte die Ungerechtigkeit darin und solidarisierte sich. Heute ist die Arbeit in Länder ausgelagert worden, wo diese unmenschlichen Arbeitsbedingungen noch möglich sind. Im Westen leben wir derweil in der Illusion, es gebe keine Arbeiter_innen mehr und merken jetzt, dass das nicht stimmt und weiterhin Arbeiter_innen selbst, trotz ihrer Systemrelevanz, am wenigsten von ihrer Arbeit profitieren – gesundheitlich und finanziell. Von dieser Beobachtung leitet sich die Erkenntnis ab:
„This is what the government is, has always been, the creator and defender of privilege; the organization of oppression and revenge. To hope that it can ever become anything else is the vainest of delusions.“
Gefahr und Hoffnung
Da der Anarchismus zentralistische Institutionen abschaffen möchte, um soziale Ordnung ohne Regierung zu erschaffen, gilt er als Gefahr für den Staat. De Cleyre stellt in ihrer Rede vom 10. November 1906 in Chicago richtig fest, dass die Machthabenden immer diejenigen verfolgen, einkerkern und in den Tod treiben werden, die eine Neugestaltung der Gesellschaft und das Ende von Privilegien fordern. Doch „Menschen sterben, aber Prinzipien leben“ (Zitat Parsons). Und so sagt de Cleyre am 11. November 1907 in New York, dass die Anarchisten zwar seit über zwanzig Jahren tot sind, aber ihre Ideen sind es nicht.
„[T]hat there need be no poor and forsaken in the world, no shelterless, no freezing ones, no craven and cowering ones, biting the dust for a crust and a rag, no tyranny of masters nor of rulers; that all these are not, as we have been taught, necessary, but only ignorant and foolish“
Was die Anarchisten in den Augen der Regierenden gefährlich machte, war ihre Nähe zu den Arbeiter*innen, dass sie Teil ihrer Orte und Treffpunkte waren, dieselbe Sprache sprachen, Enteignung und sozialen Wohlstand für alle forderten und dazu aufriefen direkt zu handeln „and not through the intervention of political powers, which could never be trusted“. Sie stellten Fragen, regten zum Denken an, malten Visionen, äußerten Wünsche, die dem bestehenden Machtgefüge entgegen standen und zuwider waren. In einem Land, in dem Freiheit propagiert wurde, waren sie es nicht, weil sie wollten, dass die Arbeiter_innen sich selbst befreiten. Das war ihr Verbrechen, nicht die Bombe, sondern die Idee, die Welt und das Leben könne den Arbeiter_innen genauso gehören wie den Kapitalist_innen und dies sei mit direkter revolutionärer Aktion zu erreichen.
„Life can be arranged otherwise. We do not need to be hungry because there is too much food, nor shelterless because we have built too many houses, nor naked because we have made too many clothes. We do not need to be idle because someone has made so much profit, that it pays him for us to be idle. We can all work, and all have leisure to straighten our backs and unbend our muscles and train our brains. We can do this thing; and we can do it ourselves; and we alone can do it. No one can do it for us; no one will do it for us; no one should do it for us. If we are great enough to make these things, we are great enough to use them, great enough to manage their making and their dividing“.
Die Worte vom 11. November 1910 in Chicago sprühen nur so vor Leidenschaft und Überzeugung – und das ist was wir heute brauchen. Die unerschütterliche Überzeugung, dass wir Lösungen für die komplexen Fragen unserer Zeit finden werden, und den Gestaltungswillen, die Ideen des guten Lebens umzusetzen. Damit unsere Ideen uns letztlich überleben werden.
Titelbild: Johan Fantenberg von Melbourne, Australia, CC BY-SA 2.0 | via Wikimedia Commons
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