Istanbul steht nicht mehr für Istanbul
Im Herbst 2020 wendeten wir von der internationalen Frauenliga uns an Regierungen, Europarat und EU Parlamentarier*innen, alarmiert durch die Ankündigung von Polens Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, Marlena Maląg, das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die „Istanbul-Konvention”, zu kündigen.
Von Heidi Meinzolt
Bis heute haben 46 Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet und 33 Staaten davon haben sie ratifiziert.
Der Präsidenten der Republik Polen, Andrzej Duda behauptete damals, die Konvention sei unnötig, weil das polnische Recht die Opfer vor Gewalt ausreichend schütze – der Rest sei „Gendergeschwätz“. Für uns ein selten skandalöser Akt von Frauenfeindlichkeit! In dieser Woche brachte in Polen die fundamentalistisch-religiöse Organisation, Institut für Rechtskultur Ordo Iuris, zusammen mit dem Christlich-Sozialen Kongress eine Gesetzesinitiative ein zur Beendigung der Anti-Gewalt-Konvention als Teil der Initiative „Ja zur Familie, nicht zum Geschlecht“. Aus feministischer Sicht ist dieses Ansinnen absurd, denn Familienpolitik kann niemals Frauen- und Geschlechterpolitik ersetzen.
Viele Aktivist*innen gingen daher am 8. März 2021 erneut auf die Straße, denn damit war das Maß der Erniedrigung in Verbindung mit der Illegalisierung der Abtreibungsdebatte voll. Bilder und Zeugnisse von Freund*innen über brutale Übergriffe der Ordnungskräfte und polizeiliche Verfolgung von Frauen zeigten das ganze Ausmaß brutaler Menschenrechtsverletzungen.
Der derzeitige Backlash gegen Frauenrechte ist für uns als Frauenfriedensorganisation auch ein Angriff auf den inneren Frieden, der in unserem Land, in Europa und weltweit gefährdet ist. Paradoxer Weise zeigen gerade in der Pandemie die Statistiken die erschreckende Zunahme sexualisierter Gewalt und sogar von Frauenmorden. Aber es gibt völlig unzureichende Schutzeinrichtungen für von Gewalt bedrohte Frauen. Insbesondere für Migrantinnen und Geflüchtete ist die Situation katastrophal. Die sozialen und wirtschaftlichen Kosten von Gewalt gegen Frauen und der Missachtung des Problems durch den Staat sind ebenfalls enorm.
Polen ist kein Einzelfall, das wird immer deutlicher. Wir hören ähnlich alarmierende Geschichten von Partnerinnen aus der Ukraine, Bosnien, Armenien, Georgien und praktisch allen Ländern Zentral-und Osteuropas. Wir nehmen aber auch war, dass die Bedrohungen für Leib und Leben der Frauen mit zunehmenden Rechtstendenzen sich überall in Europa und der EU breitmachen. Viele dieser Erfahrungen stehen in tragischer Zusammenarbeit juristischer und nationalistischer Kreise und werden gedeckt und gefördert von kirchlichen Institutionen unter dem Vorwand einer „Traditionswahrung“
Türkei
Nun ist also seit Ende letzter Woche die Türkei auf dem Wege eines Dekrets durch Erdogan, die Istanbul Konvention zu kündigen. Was steckt dahinter: Man will die Frauen, die auch ihre Söhne nicht mehr für die Kriege „geben“ wollen, gerade auch die jungen Frauen, die gesellschaftliche Mitsprache im Zusammenhang mit Umweltzerstörung einfordern, raushalten, indem man sie zum schwachen Geschlecht macht. Man drängt sie zurück in Abhängigkeiten von Ehemännern und Partnern, sie sollen viele Kinder gebären, sie dann in religiöse Schulen schicken. Die gesellschaftliche Ideologie die dahintersteckt, ist eindeutig patriarchal und ist verbunden in breitem Konsens mit korrupten Eliten und Mafiabossen.
Die Regierung und ihre „Freunde“ argumentieren, dass der Schutz von Frauen durch die Konvention ein westliches Konstrukt zur Zerstörung der moralischen Werte der Türkei sei – außereheliche Beziehungen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Alkoholgenuss und Sodomie inklusive. Der Missbrauch von Kindern soll nicht mehr unter Strafe stehen, wenn Opfer und Täter heiraten. In einem Gesetzesentwurf heißt es, sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Minderjährigen könnten rückwirkend für straffrei erklärt werden, wenn der Altersunterschied zwischen den beiden nicht mehr als fünfzehn Jahre beträgt, das Opfer den Täter nicht angezeigt hat und einer Ehe zustimmt.
Das ist nur noch zynisch! Deshalb wollen wir zum Aufschrei der durch die feministische Bewegung geht, beitragen! Unsere Solidarität gilt den Frauen, die den Schutz vor Gewalt jetzt brauchen oder auch in der Zukunft. Wichtig ist er für uns alle, es ist unser Recht.
Unsere Forderungen bleiben aktuell.
IFFF/WILPF Deutschland fordert daher:
- Es ist höchste Zeit, den Bürger*innen der Europäischen Union das Recht auf ein gewaltfreies Leben zu garantieren und dies auch als Grundlage für alle Außenbeziehungen der EU zu machen!
- Deutschland muss sich aktiver für die Verhütung von Gewalt und einen wirksameren Schutz von Betroffenen gerade auch in ihrem Europaratsvorsitz einsetzen.
- Die Europäische Union muss den Stillstand bei der Ratifizierung der Anti-Gewalt-Konvention überwinden. Das Schweigen der EU zu Gewaltprävention schafft Raum für fundamentalistische Organisationen in den Mitgliedstaaten, für die die Annahme der Konvention auf EU-Ebene eine wichtige Blockade beim Vorantreiben ihrer Agenda darstellt.
- Die EU soll die Einführung von Mechanismen zur periodischen Überwachung der Umsetzung der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Festlegung von Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz der Opfer von Straftaten durch die Mitgliedstaaten beschleunigen. Dazu bedarf es einer umfassenden EU-Strategie zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sowie der Verabschiedung rechtsverbindlicher legislativer Lösungen, die es ermöglichen, die im Übereinkommen verankerten Standards EU-weit zu vereinheitlichen und umzusetzen.
- Die Länder müssen die entsprechenden finanziellen und personellen Mittel bereitstellen, um der Istanbul-Konvention zur Umsetzung in der Praxis und nicht nur auf dem Papier zu verhelfen.
- Häusliche Gewalt einzudämmen muss als Generationenaufgabe betrachtet werden. Bildungsangebote, Aufklärung, gewaltfreie Kommunikation und Konfliktlösungsmethoden sowie intersektionelle Angebote müssen ausgeweitet werden.
Dazu auch ein Hinweis auf die online- Diskussion Ende 2020: https://www.facebook.com/286125671583639/videos/307266440452741
Dieser Beitrag erschien auf pressenza.com, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Titelbild: Selim Çetin von Pexels