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„Kritik der Warenästhetik“: Ein Buch für und gegen Weihnachten

1971 veröffentlicht lässt sich mit Haugs Werk auch heute noch die Funktionsweise des kapitalistischen Massenkonsums erklären – anhand von Coca-Cola, Herrenparfüms, Tomaten und Gurken.

Von Johannes Greß

Das Buchcover von "Kritik der Warenästhetik
Wolfgang Fritz Haug – Kritik der Warenästhetik (Suhrkamp Verlag)

Es gibt mindestens zwei gute Gründe, Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik hier und heute zu rezensieren. Dieses Buch sei all jenen ans Herz gelegt, die noch (verzweifelt) nach einem Weihnachtsgeschenk suchen – und all jenen, die ihre Geschenke bereits gekauft haben. Es braucht nicht mehr als ein paar Zeilen, um Haugs Kernaussage zusammenzufassen – erklären lässt sich damit nicht weniger als die Funktionsweise des Kapitalismus im 21. Jahrhundert.

Das 1971 und 2009 neuaufgelegte orange Suhrkamp-Buch ist knapp 350 Seiten stark, wobei das Wichtigste bereits nach wenigen Seiten gesagt ist. Haug konstatiert eine Zwickmühle herrschender Kapitalist_innen: nach dem „Wirtschaftswunder“ sind Ende der 1960er, im Zeitalter von Massenkonsum und -produktion, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung größtenteils befriedigt. In den Heimen der Nachkriegsgeneration finden sich Kühlschränke, Waschmaschinen und davor parkt ein Auto. Um die kapitalistische Reproduktion in Gang zu halten, müssen Waren dennoch verkauft werden. Denn das „Dasein des Ladenhüters“, schreibt Haug, „ist der ökonomische Tod“ der kapitalistischen Wirtschaft.

Was zählt, ist die Hülle, nicht der Inhalt

Haug beschreibt jenes quälende Gefühl der Vorweihnachtszeit, schenken zu müssen, obwohl es nichts zu schenken gibt. Weil das „Nötige“ bereits vorhanden ist, schenkt man eben, aus einer Art verlegener Höflichkeit heraus, einen weiteren Deko-Artikel, ein Buch oder immaterielle „Erlebnisse“.

Ähnlich ergeht es den Kapitalist_innen der späten 1960er Jahre, die Haug beobachtet. Es gibt kein Kapital mehr zu „verwerten“, das heißt nichts zu verkaufen, wenn Konsument_innen bereits gesättigt sind, kein „Bedürfnis“ nach Mehr verspüren. Haug schließt daraus, dass die von Marx entworfene Unterteilung in „Gebrauchswert“ und „Tauschwert“ einer Ware obsolet wird. Damit eine Ware nicht zum Ladenhüter wird, müssen neue „Bedürfnisse“ geschaffen werden, der eigentliche Gebrauchswert eines Produkts tritt dadurch zunehmend in den Hintergrund – es dominiert das „Gebrauchswertversprechen“: der „Schein wird für den Verkaufsakt so wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein“. Was zählt, ist die Hülle, nicht der Inhalt.

Von Ladenhütern ist noch niemand reich geworden

Selbiges zur Weihnachtsbescherung: in einer Konsumgesellschaft, die mit dem Nötigsten versorgt ist, die schenkt, weil man eben schenkt, liegt ein besonderes Augenmerk auf der Verpackung, der Hülle, der Form. Das lässt sich daran beobachten, dass der Reiz der Bescherung ja gerade im Auspacken liegt. Ein Ding wird gerade dadurch zum „Geschenk“, dass es in Geschenkpapier gehüllt wird und anschließend unter einem mit Kerzen und Strohsternen geschmückten Weihnachtsbaum liegt. Das ästhetische Setting der Prozedur überschattet den eigentlichen Inhalt, den Gebrauchswert des Dings.

Die die Wirtschaft dominierende „Warenästhetik“ beschreibt Haug – etwas komplex – als „einen aus der Warenform der Produkte entsprungenen, vom Tauschwert her funktionell bestimmten Komplex dinglicher Erscheinungen und davon bedingter Subjekt-Objekt-Beziehungen“. Soll heißen, Herstellung und Aufmachung eines Produkts orientieren sich weniger an der realen Nützlichkeit, sondern an der Wahrscheinlichkeit, ob sich die Ware profitabel verkaufen lässt. Der Fokus der Produzent_innen liegt auf der ästhetischen Erscheinung, die Hülle muss glänzen, was sich dahinter verbirgt, ist Nebensache. Eine Ware muss verkauft werden, von Ladenhütern ist noch niemand reich geworden.

Zwang zur „ästhetischen Innovation“

Das bedeutet, Kapitalist_innen und deren Agent_innen sind pausenlos damit beschäftigt, neue „Bedürfnisse“ zu schaffen, diese entsprechend zu verpacken, um einen Wert zu realisieren, der vormals nicht realisierbar war, weil das Produkt Konsument_innen nicht begehrenswert erschien. Haug beschreibt das anschaulich am Siegeszug der „Herrenkosmetik“. Lange Zeit galten Beautyprodukte als Frauenangelegenheit. Echte Männer hatten nach Arbeitsschweiß zu duften. Eine Marktlücke, die es zu erobern galt. Im Jahr 1967 sei so sieben Mal mehr in Werbekampagnen für „Herrendüfte“ als für Frauenparfums investiert worden.

Haug spricht von einer „Subjekt-Objekt-Beziehung“, denn der durchschlagende Erfolg von Marketing und Werbung wirke auf die Konsument_innen zurück. Nicht nur, dass Duftwässerchen durch den immensen Marketingaufwand den Charakter des Homosexuellen und Femininen verloren hatten – seither wird der Schweiß harter Arbeit gesellschaftlich als unangenehm empfunden. Was das „Bedürfnis“ nach Herrenparfüms und Deos nur weiter anheizt.

Die permanente „ästhetische Innovation“, schreibt Haug, „unterwirft die gesamte Welt der brauchbaren Dinge (…) einer rastlosen ästhetischen Umwälzung“. Was gestern noch „die Farbe des Sommers“ war, ist im Herbst bereits „aus der Mode“. Produkte, insbesondere „Marken“, sind kaum mehr Gebrauchsgegenstände, sondern vielmehr identitätsstiftendes Merkmal. Und werden dadurch konstruier- und steuerbar, werden zum Herrschaftsinstrument, Herrschaft durch die „Faszination ästhetischer Gebilde“. „Die Mechanismen des Profitstrebens“ gingen letztlich so weit, dass sie „die Sinnlichkeit des Menschen“ umzüchten.

Von Waschmitteln und Tomaten  

Dass Haugs Thesen wenig an Bedeutung eingebüßt haben, zeigt ein Spaziergang durch eine beliebige Einkaufsstraße oder Shoppingmall. Oder schlicht der Umstand, dass diese trotz Pandemie geöffnet haben. Die Maschinerie muss laufen, denn die „mörderische Frage für den Kapitalismus heißt offenbar: ‚Brauch‘ ich das?‘“, heißt es in einem ZEIT-Essay treffend. Was Haugs Abhandlung so lesenswert macht, ist dessen Tiefe, dessen Schärfe, dessen Sinn und Blick für die Details der Details. Mit seiner Eingangsthese beleuchtet Haug Waschmittel, Coca-Cola-Dosen und Fake-Brüste. Mit ihm lassen sich Aussehen und Verhalten von Verkäufer_innen sowie Anordnung und Beleuchtung von Gurken und Tomaten in Supermärkten erklären. Nicht zuletzt ist die Kritik der Warenästhetik durch die theoretische Nachjustierung der Subjekt-Objekt-Beziehung ein Paradebeispiel dafür, wie Marx‘ oft für überholt erklärte Thesen für ein Denken im 21. Jahrhundert fruchtbar gemacht werden können.

Ich hoffe, Sie haben nun trotzdem oder gerade deswegen noch ein passendes Weihnachtsgeschenk gefunden!


Wolfgang Fritz Haug – Kritik der Warenästhetik
Suhrkamp Verlag – 2009
ISBN: 978-3-518-12553-3

Zum Autor: Wolfgang Fritz Haug, geb. 1936, ist Philosoph und seit 1994 Herausgeber des „Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus“.

Titelbild: Olenka Sergienko von Pexels

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