Wiener Wahlgeschichten
Vorsorglich ist die Bestimmung, dass das Wahlkartenergebnis am Montag vorliegen muss, aus der Corona-Wahlordnung gestrichen. Während also noch ausgezählt wird, werfen wir einen Blick in die Wiener Wahlgeschichte: wie Frauen das Wahlrecht verloren und wieder gewannen, wie Ausländer*innen schon mal mitwählen durften und von wem die Nazis 1932 ihre Stimmen erhielten.
Von Tamara Ehs
Bei Ausrufung der Republik 1918 stand in Wien immer noch das Privilegienwahlrecht in Geltung. Das heißt, das allgemeine Männerwahlrecht von 1907 hatte den Wiener Gemeinderat nicht berührt und Mitbestimmung war allein dem Wiener Besitz- und Bildungsbürgertum vorbehalten. Doch schon im Staatsgesetzblatt Nummer 5/1918 wurde festgelegt, dass die Neuwahl der Gemeindevertretungen binnen drei Monaten und vor allem nach dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht aller Staatsbürger*innen ohne Unterschied des Geschlechts zu erfolgen habe. Somit waren erstmals auch Wienerinnen berechtigt, ihren Gemeinderat zu wählen.
Zwar waren einige Frauen, sofern sie vermögend waren, bereits seit Einführung der Gemeindeautonomie 1849/50 als Steuerzahlerinnen auf Basis von Haus- und Grund- beziehungsweise Gewerbebesitz auf Gemeindeebene wahlberechtigt gewesen; dies galt allerdings nicht für große Gemeinden wie die Stadt Wien. Dieser Umstand der Differenzierung hatte dazu geführt, dass 1890/1892 bei der Eingemeindung der Vororte als neue Wiener Bezirke 11 bis 19 zahlreiche Frauen, die zuvor als Niederösterreicherinnen in ihrer Gemeinde wahlberechtigt gewesen waren, als Wienerinnen plötzlich ihr kommunales Wahlrecht einbüßten.
Neben der Erweiterung des Wahlrechts auf Frauen wurde 1918 auch das Wahlalter von 24 auf 20 Jahre gesenkt, vor allem um Personen, die Kriegsdienst geleistet hatten, zu integrieren. Und bis zur Neuwahl musste der Gemeinderat durch Vertreter*innen der Arbeiterschaft ergänzt werden. So trat am 3. Dezember 1918 der aus 165 Mitgliedern bestehende provisorische Gemeinderat zusammen, der sich wie folgt zusammensetzte: 84 Christlichsoziale, 60 Sozialdemokrat*innen, 19 Deutschfreiheitliche und zwei Deutschnationale. Er erarbeitete eine neue Wahlordnung, womit ab März 1919 auch in Wien das Kurienwahlsystem beseitigt war.
Aufgrund des auch in der Ausrufung als „Republik Deutsch-Österreich“ zum Ausdruck gebrachten Anschlussgedankens waren zur ersten Gemeinderatswahl nicht nur alle österreichischen Staatsbürger*innen wahlberechtigt, sondern auch die im Wiener Gemeindegebiet wohnhaften deutschen Reichsangehörigen. Für sie wie auch für die Österreicher*innen galt eine viermonatige Sesshaftigkeit in Wien, um zur Wahl zugelassen zu sein. Die Neuwahl des Gemeinderats fand am 4. Mai 1919 statt und brachte der Sozialdemokratie mit 54.2 % den Sieg.
Nach der Trennung Wiens von Niederösterreich per 1. Jänner 1922 konstituierte sich der Wiener Gemeinderat auch als Landtag und setzte die Wahlordnung am 24. Juli 1923 als Landesgesetz in Kraft: Wahlberechtigt war ab nun jede*r österreichische Staatsbürger*in ohne Unterschied des Geschlechts, der*die vor dem 1. Jänner des Jahres, in dem die Wahl stattfand, das 20. Lebensjahr überschritten, am Tag der Wahlausschreibung im Gemeindegebiet von Wien seinen ordentlichen Wohnsitz hatte und vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen war. Zugleich wurde die Zahl der Gemeinderät*innen von 165 auf 120 vermindert. Nach diesen Vorschriften fanden die Wahlen von 1923 und 1927 statt, die der Sozialdemokratie weitere Zuwächse (1923: 55.9 % und 1927: 60.3 %) brachten.
Nach der B-VG-Novelle 1929 wurde auch die Wiener Stadtverfassung geändert, sodass die letzten freien Wahlen des Gemeinderates in der Ersten Republik 1932 unter leicht veränderten Bedingungen stattfanden: Die Zahl der Gemeinderät*innen wurde abermals verringert, diesmal auf 100, und das aktive Wahlrecht auf 21 hinaufgesetzt. Die Wahl von 1932 brachte wiederum der Sozialdemokratie den Sieg (59 %), die zudem kaum Stimmverluste hatte hinnehmen müssen – anders als die Christlichsozialen: Sie hatten viele Wähler*innen an die NSDAP verloren, die mit 17.4 % in den Wiener Gemeinderat einzog.
Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung. Dabei berät sie auch Städte und Gemeinden in partizipativen und konsultativen Prozessen. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments. Soeben ist ihr neuestes Buch „Krisendemokratie“ (Wien: Mandelbaum Verlag 2020) erschienen.
Titelbild: Phillip Kofler auf Pixabay
Danke für den fundierten Überblick!