Ungleichheit in der Corona-Gesellschaft
Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich
Von Christoph Butterwegge
Während der Covid-19-Pandemie, des Lockdowns und der ihm folgenden Rezession sind die Reichen reicher und die Armen zahlreicher geworden. Das liegt einerseits an den kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, den gesellschaftlichen Verteilungsmechanismen und den politischen Machtverhältnissen. Andererseits sind die meisten Länder von einem Ungleichheitsvirus befallen, das den Namen „Neoliberalismus“ trägt. Es handelt sich hierbei um eine Wirtschaftstheorie, die zu einer Sozialphilosophie und Weltanschauung, ja zu einer politischen Zivilreligion avanciert ist.
Wem gleicht Corona – der Pest oder der Cholera?
Was die sozioökonomische Ungleichheit angeht, haben Seuchen in der Vergangenheit teilweise nivellierend oder egalisierend gewirkt, wenn auch meistens nur für kurze Zeit. Die mittelalterliche Pest beispielsweise schuf einen gewissen sozialen Ausgleich, weil sie Angehörige aller Stände traf: Während anschließend die Löhne wegen eines akuten Arbeitskräftemangels stiegen, wurden Lebensmittel, Grund und Boden sowie Immobilien aufgrund fehlender KäuferInnen billiger. Die heute weitgehend vergessene Polio-Pandemie der 1950er-Jahre traf sogar hauptsächlich Kinder eher wohlhabender Familien, die weniger Abwehrkräfte gegenüber dem Virus besaßen. Die bakteriell bedingten Epidemien des 19. Jahrhunderts – Cholera, Tuberkulose und Typhus – forderten ihre Opfer hingegen fast ausschließlich in den Armenvierteln der Industriestädte. Mit ihnen hat die Covid-19-Pandemie gemeinsam, die Immun- und Finanzschwächsten am stärksten zu treffen.
Vergleicht man Corona mit Pest und Cholera, gleicht das neuartige Virus aus diesem Grund der Letzteren. Durch die Covid-19-Pandemie hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich schon jetzt weiter vertieft, obwohl SARS-CoV-2 kein „Ungleichheitsvirus“ ist. Es trifft vielmehr auf Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen, unter denen es als Katalysator eines gesellschaftlichen Polarisierungsprozesses und der Krise des Sozialen fungiert. Unsozial ist keineswegs das als Sars-CoV-2 bezeichnete Virus, sondern eine reiche Gesellschaft, die ihre armen Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den Verwerfungen der Pandemie schützt.
Hauptleidtragende der Pandemie sind die Armen
Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Asthma, Rheuma oder Raucherlunge, katastrophale Arbeitsbedingungen wie in der Fleischindustrie und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse wie in den Gemeinschaftsunterkünften von Strafgefangenen, Geflüchteten, WerkvertragsarbeiterInnen der Großschlachtereien oder SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft erhöhen das Risiko für eine Infektion mit dem Coronavirus sowie für einen schweren Krankheitsverlauf. Bisher galt wegen der niedrigen Lebenserwartung von Armen, die rund zehn Jahre unter der von Wohlhabenden und Reichen liegt, die zynische Faustregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Seit der Covid-19-Pandemie kann man sie abwandeln: Wer arm ist, muss eher sterben.
Wie nie zuvor wurde erkennbar, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen von etablierten Parteien und Massenmedien, die meisten EU-Mitgliedsländer seien „klassenlose Gesellschaften“ mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine Regeleinkünfte auskommt.
Reichtum auf Kosten der Armen
Großunternehmen krisenresistenter Branchen wie Lebensmittel- und Versandhandel, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie realisierten Extraprofite. Die lange Liste jener Konzerne, die von der pandemischen Ausnahmesituation profitiert haben, reicht von A wie Amazon bis Z wie Zalando. Auch jene, denen ein Lieferservice, eine Drogerie oder ein Baumarkt gehörte, waren in einer günstigeren Position als BesitzerInnen eines Reisebüros.
Die durch das Coronavirus bewirkte Zerstörung von Lieferketten und Vertriebsstrukturen, der Verlust von Absatzmärkten sowie die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen, aber auch Konkurse und Kündigungen zur Folge. Unter dem Druck der Rezession kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die Besitzer von Ladenketten wie Aldi oder Hofer noch reicher geworden sind. Schon vor der Pandemie wurde das Privatvermögen von Dieter Schwartz, dem Eigentümer von Lidl und Kaufland, mit 41,5 Milliarden Euro veranschlagt.
Während des Lockdowns und der Rezession rutschten mehr Girokonten von GeringverdienerInnen ins Minus, weshalb gerade die ärmsten KontoinhaberInnen hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen mussten, wodurch die Besitzer von Banken ihr Vermögen gemehrt haben. Vergleichbares gilt für die Kassen- bzw. Liquiditätskredite überschuldeter Gemeinden, die geringere Steuereinnahmen, aber höhere Sozialausgaben als vor der Covid-19-Pandemie hatten. Daher hat die öffentliche Armut zugenommen, während der private Reichtum weniger Hochvermögender gestiegen ist.
Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Kürzlich ist sein Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“im PapyRossa Verlag erschienen..