Doch immer wieder geht die Sonne auf
Gedanken zur Coronakrise von Johann Wögerer
Wenn man 71 Jahre alt ist, dann kann man schon von sich behaupten, einiges erlebt zu haben. Wie lange ich noch etwas erleben darf, liegt nicht nur in meinem Einflussbereich. Im Lied von Udo Jürgens Denn, immer, immer wieder geht die Sonne auf heißt eine Textpassage „Wenn ein Blatt, irgendein Blatt vom Baume fällt, weil der Herbstwind es so bestimmt“. Dieses Blatt könnte auch ich sein, und der das bestimmt, könnte das Coronavirus sein.
Meine Frau Elfi, ebenfalls in diesem Alter, und ich versuchen uns so gut es geht, nach den Vorschriften der Regierung zu halten, aber es bleibt ein ungutes Gefühl: Du darfst deiner eigenen Tochter, die im 1. Stock wohnt, nicht die Hand geben, wenn sie zu uns herunter kommt, darfst sie nicht umarmen oder ihr freundlich auf die Schulter klopfen. Im Gegenteil, du musst mindestens einen Meter ausweichen, wenn sie dir auf dem Gang begegnet, und das macht man manchmal erst im letzten Augenblick, weil man vergessen hat, dass es die Coronakrise gibt. Gespräche werden in entsprechender Entfernung geführt, die Einkaufswünsche per SMS geschrieben. Noch schlimmer ist es mit den anderen Kindern und Enkelkindern. Sie können wir nur über WhatsApp oder über Videokonferenzen sehen und hören.
Das Tröstliche bisher: Wir alle sind noch gesund – bis auf Dina, unseren Hund. Sie hüstelt schon eine Zeit lang, sie kränkelt. Tochter Andrea meint, wir sollten mit ihr zum Tierarzt fahren. Aber ist das nicht zu gefährlich? – Ich will noch ein paar Tage zuwarten. Wenn es nicht besser wird, dann …. Was ist notwendig, was nicht?
Gestern fuhr ich mit Bauchweh zum Obi, um 130 Mini-Piloten zum Eingrenzen des Steinhaufens und eine Holzlasur zum Streichen der Holzbänke in unserem Garten zu kaufen. Im Geschäft kam ich mir vor wie – und das klingt momentan stark übertrieben – als würde ich mich mit einem Fuß ins Grab begeben. Was ist, wenn mich jemand ansteckt, oder umgekehrt? Es waren viele, aber nicht so viele Leute einkaufen. Beim Eingang wurden mein Wagerl und meine Hände desinfiziert, und die Gesichtsmaske hatte ich schon aufgesetzt – die selbstgemachte von Elfi. Alle waren sehr diszipliniert, ich sah niemanden, der keinen Nase-Mund-Schutz getragen und der sich nicht bemüht hätte, genug Abstand zu halten, bei der Kassa gab es außerdem die Distanzstreifen. Nach dem Ausladen zu Hause wusch ich mir sofort gründlichst mit Seife die Hände. – Da konnte ich doch keinen Virus (mehr) haben! Nach menschlichem Ermessen nicht. Und ob ich jemanden angesteckt hatte? Restzweifel bleiben.
Finanziell haben wir kein wirkliches Problem, das Geld reicht für den täglichen Haushalt, für die anfallenden Fixkosten und für die Tilgungen der Darlehen, die wir zum Hausbauen, zur Renovierung der Außenfassade und des Dachstuhls aufgenommen haben. Außerdem haben wir etwas angespart. Wir hören aber täglich von den Sorgen der Menschen, denen durch die Coronakrise droht, ihre Existenz zu verlieren – trotz der finanziellen Unterstützung seitens der Regierung. Caritas, Rotes Kreuz und alle anderen NGOs rufen auf zu spenden. Ich habe schon gespendet, auch der Gemeinwohl-Ökonomie, die in Not geratenen Mitgliedern unter die Arme greifen will – und das auch schon getan hat!
An unsere Gemeinde habe ich folgende Zeilen gerichtet:
Liebe Frau Bürgermeister, ein Spendenaufruf wäre eine tolle Sache. Wohlhabende Bürger – darüber kann man natürlich diskutieren, wer wohlhabend ist – sollten bereit sein, zum Beispiel monatlich, so lange einen bestimmten höheren Betrag an direkt von der Coronakrise Betroffene oder auf ein Konto der Gemeinde, dem Bezirk, dem Land oder bei Licht ins Dunkel zu überweisen, bis wieder jeder selber auf eigenen Beinen stehen kann. – So würde auch dem Staat Österreich, der Regierung stark geholfen werden.
Ein ähnliches Schreiben habe ich auch Bundeskanzler Kurz, Vizekanzler Kogler, Gesundheitsminister Anschober und Innenminister Nehammer per Email geschrieben. Auch die folgenden Zeilen – inhaltlich ident – habe ich den Regierungsmitgliedern zukommen lassen:
Alle in Österreich illegal lebenden Flüchtlinge sollten legalisiert werden – siehe Portugal! – und das Asylrecht erhalten (falls sie nicht wegen eines Verbrechens verfolgt worden waren). Das wäre sowohl ein großer sozialer Akt als auch ein wirtschaftlicher. Die Flüchtlinge könnten so menschenwürdig leben und zweitens auch einer Arbeit nachgehen, denn die meisten wollen arbeiten und für sich selbst sorgen. Trotz momentan zunehmender Arbeitslosigkeit bräuchten bestimmte Sparten gerade jetzt dringend Arbeitskräfte!
Bisher habe ich auf meine Schreiben keine Antwort bekommen – oder ist das zu viel verlangt?
Fast jeden Tag hören wir vom Bundeskanzler und Vizekanzler, dass die Welt nach der Coronakrise nicht mehr dieselbe sein wird wie die vor der Krise. Soll das eine Warnung sein? Schön wäre es, wenn sie sich zum Besseren wenden würde. Wenn nicht mehr der Slogan zählt „Geiz ist geil“, wenn nicht mehr 147 Konzerne die Welt beherrschen würden, wenn die Schere zwischen reich und arm wesentlich verkleinert werden und wenn die Natur und die soziale Gerechtigkeit das Prägende in der Wirtschaft sein würde. 88 % der Deutschen und sogar 90 % der Österreicher wünschen sich ein neues Wirtschaftssystem. Interessant ist aber, so nach den Worten von Christian Felber, einer der Mitbegründer der Gemeinwohl-Ökonomie, dass in ärmeren Ländern Afrikas der Wunsch nach einer alternativen Wirtschaftsordnung nicht so groß ist. Warum? Weil in diesen Ländern die Sinnkrise, der Sinnhunger nicht so groß ist wie bei uns. Mag. Felber ist überzeugt, dass in einer funktionierenden Demokratie es immer die Möglichkeit des Systemwechsels gibt. Denn das Wirtschaftssystem ist kein Naturgesetz, sondern eines vom Menschen, von Regierungen geschaffenes.
Prof. (FH) Ing. Mag. Heinz Allgäuer-Hackl, Teammitglied von WANDEL, Vorarlberg, hat mir folgendes Email-Schreiben sinngemäß zukommen lassen:
Wir haben viel Zeit für die Gartenarbeit und „nebenbei“ beurteile ich Seminararbeiten. Kurz um, uns geht es gut. So ist es leider nicht überall. Wir sind mit Kolumbien noch immer sehr eng verbunden und ich denke, die Friedensaktivistin Vera Grabe Loewenherz zuhören lohnt sich. Auch Kolumbien ist nicht verschont vom C-19 und dort gibt es für die indigenen Völker und AfrokolumbianerInnen sowie für etwa 80% der Gesamtbevölkerung keine Gesundheitsversorgung, keine Intensivbetten etc.
Unsere FreundInnen in Kolumbien sind sehr besorgt, aber auch sehr aktiv, in einem Land, das von einem Präsidenten regiert wird, der den Friedensprozess aufgekündigt hat und als Diktator brutalst regiert (werden wir bald in Ungarn und anderen europäischen Ländern Ähnliches erleben mit Einschränkung der Pressefreiheit, Aushebeln der Justiz und der Demokratie?) und fast täglich FriedensaktivistInnen töten lässt.
Vielleicht schaffen wir es, über den C-19 uns neu zu orientieren und trachten, dass Werte wie Würde, Solidarität (ganz speziell mit Flüchtlingen), Respekt, gleiche Chancen für alle, gerechtes Steuersystem, gerechte Löhne, gerechte Verteilung von Arbeit, Verantwortung für sich und die Gemeinschaft inkl. der Natur zu übernehmen; Gemeinwohlökonomie/solidarische Ökonomie statt Turbo-Kapitalismus und Raffgier; teilen statt akkumulieren; unterstützen statt ausbeuten … – einfach ein Leben in Würde für alle Lebewesen.
Wie anfangs erwähnt, habe ich mit meinen 70 Jahren schon einiges erlebt. Meine persönlichen Höhen und Tiefen halten sich ziemlich die Waage. Wirtschaftliche Krisen gab es zwar einige, doch hat mich davon nicht wirklich eine besonders in Schwierigkeiten gebracht. Erinnern kann ich mich noch an die Maul- und Klauenseuche in den 60er Jahren. Diese Viruserkrankung brachte viel Elend für die Bauern, denn die stark ansteckende Krankheit raffte viele Nutztiere wie Rinder und Schweine darnieder, auch in meinem Elternhaus mussten viele Kühe und Kälber notgeschlachtet werden. Gott sei Dank war sie nicht auf die Menschen übertragbar. Aber auch diese Krise konnte überwunden werden, und heute wird der landwirtschaftliche Betrieb als stattlicher Pferdehof geführt.
So ist zu hoffen, dass nach der derzeitigen Dunkelheit, der Coronakrise, wieder Licht – vielleicht ein verklärtes, schöneres – den Alltag erhellt. – Wie es der unvergessene Udo Jürgens beschwörend singt:
Denn immer, immer wieder geht die Sonne auf, und wieder bringt ein Tag für uns ein Licht, ja, immer, immer wieder geht die Sonne auf, denn Dunkelheit für immer gibt es nicht, die gibt es nicht, die gibt es nicht.
Alle Fotos: Johann Wögerer (privat)