Wer ist der Souverän? Wer entscheidet im aktuellen Ausnahmezustand?
Die Coronakrise macht die Fehlentwicklungen des neoliberalen Bazillus sichtbar, der sich in den letzten Jahrzehnten ausbreitete.
Ein Gastkommentar von Sepp Wall-Strasser
Zynisch könnte man behaupten, die Neoliberalen haben wieder mal Glück gehabt: zur sich bereits anbahnenden neuen Börsen- und Finanzkrise kam die Coronakrise dazu, die nun wieder als Ausrede herhalten kann und so die Ursachen der ersteren verdeckt. Jede große Krise braucht einen Anlassfall. Der ist nun gegeben. Er macht aber die Fehlentwicklungen des neoliberalen Bazillus sichtbar, der sich in den letzten Jahrzehnten ausbreitete. Die Folgen dieser Krankheit schwächten das Immunsystem unserer Gesellschaften gewaltig.
Die Folgen waren nicht nur eine immer stärker auseinanderdriftende Gesellschaft in Aufsteiger und Verarmende innerhalb der nationalen Gesellschaften, sondern auch ein schleichendes Auseinanderdriften Europas in neue Nationalismen.
Dazu „verarmte“ Europa auch durch fehlende Investitionspolitik. Seit der letzten Lernchance – der Finanzkrise 2008 – hat man nichts dazugelernt und die alte sozial-, wirtschafts- und umweltpolitische Halsabschneiderpolitik wurde fortgesetzt. Während China seit 2008 über 20.000 neue Eisenbahnkilometer mit Hochgeschwindigkeitsbahnen aus dem Boden gestampft hat, hat Europa nichts unternommen. Es ist noch immer ein Abenteuer, mit dem Zug von Wien nach Sofia oder Palermo zu fahren. Welch Armutszeichen, dass wir – noch nicht einmal am Höhepunkt der Coronakrise –auf Hilfslieferungen von Atemschutz und Ärzte aus China angewiesen sind, und die Lieferungen aus dem benachbarten Deutschland blockiert werden.
Vielleicht bewahrheitet sich wieder einmal, dass eine große Korrektur große Krisen oder Katastrophen braucht. So war es 1944, als in Bretton Woods mit den genialen Männern Franklin D. Roosevelt und J. M. Keynes eine Sternstunde der Politik anbrach. Diese dauerte bis in die Mitte der 70er-Jahre an.
Nun bedurfte es einer neuen Katastrophe, um die Verantwortlichen eines Besseren zu belehren. Plötzlich werden die Mastrichtkriterien ausgesetzt. Eine Fessel, die – kombiniert mit anderen menschen- und investitionsfeindlichen Programmen – halb Europa in die Armut zwang. Plötzlich taucht er wieder auf, der Staat, das Schreckensgespenst aller ideologieblinden marktliberalen Monetaristen, und muss das Gemeinwohl retten.
Die Ironie ist: nun müssen konservative Regierungen und PolitikerInnen vollziehen, was ihnen bis vor wenigen Wochen noch ein Gräuel gewesen ist. Hilfspakete in bisher unvorstellbarer Milliardenhöhe werden freigemacht. Man denke nur an das kindische Feilschen um Promillstellen bei der Erhöhung des EU-Budget grade noch vor ein paar Wochen. Bundeskanzler Kurz war einer der Wortführer der nationalen Schrebergärtenpolitik.
So zwingt die Krise auch dem österreichischen Finanzminister ein bitteres Lernprogramm auf, welches er schon vorher bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Volkswirtschaft absolvieren hätte können. Wie verhaftet er zwar noch immer in den alten Bahnen ist zeugt davon, dass er noch immer Scheu hat, sich zu Eurobonds zu bekennen. Dabei ist dies nur ein relativ kleiner Teil eines großen Programmes der Politikänderung, welches nun nötig ist. Ob es realisiert wird oder sich letzten Endes wieder die Mächtigen des alten Systems durchsetzen, – dieser Machtkampf steht jetzt aus.
2008 wurde dieser Kampf verloren. Diesmal sind die Chancen größer, weil die Krise um das vielfache größer ist.
Die Antworten auf diesem massiven Kollaps müssen europa- und weltweit sein. Think Big ist gefragt. Die Rezepte klingen unoriginell, weil sie bereits seit Jahren immer wieder eingefordert, von den an den Entscheidungspositionen Sitzenden aber immer als lächerlich oder „den Markt gefährdend“ abgetan werden konnten. Dennoch sind sie unvermeidbar, will man einen humanen Ausgang aus der Misere. Hier einige Orientierungsschilder, in welche Richtung die Politik nun gehen muss.
Eine sozial, politisch und wirtschaftlich geeinigtes Europa.
Ob man dies nun Europäische Republik oder anders nennen mag – klar ist, dass diese Einigung überlebensnotwendig ist. Keine große Herausforderung unserer Zeit lässt sich heute noch national(istisch) lösen. Das begreifen nun alle, die nicht komplett in anderen Sphären leben. Ob Umwelt, Finanz, Währung, Wirtschaft, Soziales, Gesundheit, Verkehr, Wahlrecht, Migration – es braucht demokratisch legitimierte supranationale politische Institutionen und Organisationen, um diese Bereiche zu regeln.
Dazu braucht es jetzt die Übereinstimmung, dass die Spielregeln für das Agieren der EZB und der europäischen „Schulden“- bzw. Kreditpolitik geändert werden. So ein Desaster wie in der Finanzkrise 2008 – 2010 darf sich nicht mehr wiederholen. Es kann in diesen Zeiten nur einen „Rettungsschirm“ geben, garantiert durch die EZB, der über ganz Europa gespannt ist, und der dadurch auch die Macht der Ratingagenturen ausschaltet.
Um schließlich einen „Wiederaufbau- bzw. Restrukturierungsprozess“ in Gang zu setzen, dafür gab und gibt es ganz einfache Mitteln, die uns schon aus dem Tal der bisher schlimmsten Katastrophe – dem 2. Weltkrieg – geführt haben. Beispielhaft seine genannt: die Wiedereinführung eines gerechteren und wirtschaftlich sinnvolleren Steuersystems mit Körperschaftssteuern von 50%, Spitzensteuersätze bei hohen Einkommen bis zu 90%, langfristige Billigstkredite zum fixen Zinssatz über 30 – 40 Jahren, amtlich geregelte Preise für Grundnahrungsmittel, Mieten, Energiekosten und anderes, um sie dem Spekulantentum zu entziehen. Meine Großeltern – obwohl Flüchtlinge aus Tschechien! – erhielten 1953 für den Hausbau einen Kredit über 35.000 Schillinge, garantiert verzinst zu 1 Prozent auf 70 Jahre! Unsere Wiederaufbaugeneration war nicht auf den Kopf gefallen, als sie diese Maßnahmen einführte. Wir alle profitierten bis lange in die 80er und 90er Jahre hinein in Europa und Österreich von diesen klugen Regelungen. Mies wurden sie gemacht durch die folgenden Generationen der marktgläubigen Fundamentalisten.
Und schließlich geht es um einen neuen Internationalismus – im Gegensatz zum die Herrschaftsstrukturen verschleiernden Begriff der „Globalisierung“, der uns einhämmerte, das alles marktgesetzlichen Bahnen zu folgen habe. Dazu gehört die Schaffung eines neuen Systems der Stabilisierung der Wechselkurse der großen Währungen. Keynes hatte die Idee eines Weltwährungskorbes Bancor. Diese fixen Wechselkurse wurden in den letzten Jahren immer wieder eingefordert. Es ist höchste Zeit, mit den Währungsspekulationen Schluss zu machen.
Schließlich muss die Vision von einer weltweiten Angleichung der Löhne und Sozialleistungen die Agenden der Politik bestimmen. Nur so wird dem Auswandern in Billiglohnländer à la long ein Riegel vorgeschoben.
Die UNO muss wieder jene Rolle bekommen, die ihr bei ihrer Gründung zugedacht war. Es fehlen der derzeitigen Politik die Visionen, die 1945 – 1948 den Politikern innewohnten. Eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wäre in den Köpfen der meisten heutigen Politiker undenkbar – so tief sind wir in der Zwischenzeit gesunken.
Think big! Die Konzepte und Ideen sind da. Wer aber hat die Macht hat, sie in Gang zu setzen? Wer ist der Souverän in diesem Ausnahmezustand, den wir derzeit erleben? Sind unsere Demokratien fähig, diesen zu bewältigen, oder geben wir Carl Schmitt recht, dass sie für diese Situation über Bord zu werfen ist? Werden wieder die völkisch-nationalistisch Denkenden gewinnen? Oder die bisherige Elite, die alle paar Jahre den Karren an die Wand fährt? Nach 1944 waren es die cleveren Vorgaben der Bretton Woods Konferenz. Die von John Maynard Keynes geforderte Großzügigkeit prägte damals das Denken. Wer das Machtspiel 2020 entscheidet, wird über unsere Zukunft entscheiden.
Mag. Sepp Wall-Strasser MAS ist Bereichsleiter für Bildung und Zukunftsfragen im ÖGB OÖ und Geschäftsführer von weltumspannend arbeiten, dem entwicklungspolitischen Verein im ÖGB
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