Enteignung, Überwachung, Ausbeutung – demokratische Spielregeln sind überfällig
Daten sind der Rohstoff, der im 21. Jahrhundert die Profite digitaler Unternehmen sichert. Google, Facebook & Co. überwachen und enteignen uns dabei. Gleichzeitig werden deren Algorithmen mithilfe digitaler Arbeit trainiert. All dies geschieht fernab demokratischer Regeln – höchste Zeit, den digitalen Kapitalismus „einzubetten“!
Von Bernhard Siegl, Referent für Umwelt in der Abteilung Wirtschaftspolitik der AK Steiermark.
Daten als Basis für Profit
Die größten Unternehmen der Welt (nach Marktwert) sind fast ausschließlich digitale Unternehmen wie Google, Facebook oder Microsoft. Der Reichtum dieser Unternehmen beruht auf der Aneignung, Verarbeitung und dem Verkauf von Daten. Dies unterscheidet digitale Unternehmen von Industrieunternehmen. Letztere kaufen Waren ein (hierzu zählt die menschliche Arbeitskraft), die sie zu neuen Waren (wie z. B. Autos) verarbeiten und dann profitträchtig verkaufen. Im digitalen Kapitalismus stößt diese industrielle Produktionsweise jedoch auf Widersprüche in der Logik der Kapitalakkumulation. Denn digitale Produkte (wie z. B. Software, Musikdateien, Videos) kann man im Prinzip kostenlos vervielfältigen und weiterreichen. Ohne Preis daher kein Profit, also auch keine Kapitalakkumulation. Was die digitale Kapitalakkumulation jedoch ermöglicht, sind Daten. Diese entstehen nämlich jedes Mal, wenn digitale Produkte genutzt werden. Die größten Unternehmen im 21. Jahrhundert haben die digitale Akkumulationslogik verinnerlicht, indem sie sämtliche Daten sammeln, verarbeiten und profitabel verkaufen.
Überwachung im Dienste der Produktoptimierung
Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschafterin und Autorin Shoshana Zuboff beschreibt sehr genau, wie das Sammeln von Daten zum Zweck der Profitgenerierung mit einer zunehmenden Überwachung einhergeht. Die Akkumulationslogik dieses digitalen „Überwachungskapitalismus“ lässt sich sehr gut am Beispiel von Google skizzieren. Zu Beginn (also um die Jahrtausendwende) sammelte Google nur jene Daten, die unmittelbar mit der Nutzung der Suchmaschine zusammenhingen. In diesem Stadium versorgte Google seine Algorithmen nur deswegen mit Daten, um die Funktionsfähigkeit der Suchmaschine (also die von Google angebotene Leistung) im Dienste der NutzerInnen zu verbessern. Dieses Vorgehen beruhte in gewisser Weise auf Gegenseitigkeit: Je mehr Leute Googles Suchmaschine nutzten, desto mehr Daten ergaben sich zur Verbesserung der Suchfunktion, was wiederum bestehende NutzerInnen zufriedenstellte und neue NutzerInnen anlockte.
Nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 wurde Google von seinen InvestorInnen dazu gedrängt, endlich ernsthafte Erlösquellen vorzuweisen. Daher begann Google auch jene Daten zu sammeln, die gar nicht mehr mit der Verbesserung der Suchmaschine zusammenhingen. All diese Daten fütterte Google an seine hauseigenen Algorithmen. Diese Algorithmen sind die Maschinen des digitalen Kapitalismus, die digitalen Produktionsmittel des 21. Jahrhunderts. Sie produzieren sogenannte „Vorhersageprodukte“, die eigentlichen Waren des digitalen Kapitalismus. Diese Vorhersageprodukte werden von digitalen Unternehmen wie Google, Facebook oder Microsoft an deren KundInnen, also an Werbeunternehmen, verkauft. Und je besser diese Vorhersageprodukte sind, also je genauer sie das gegenwärtige und zukünftige Verhalten von uns NutzerInnen prognostizieren können, desto teurer und somit profitabler sind sie auch. Es geht nun nicht mehr darum, durch das Sammeln von Daten Googles Suchmaschine, Facebooks Seite oder Microsofts Software zu verbessern. Es geht darum, NutzerInnen so genau, so lang und so oft wie möglich zu überwachen und somit genauere Vorhersagen tätigen zu können. Genau genommen sind wir also keine NutzerInnen – wir sind die Objekte, aus denen der Rohstoff extrahiert wird, der im 21. Jahrhundert die digitale Kapitalakkumulation sichert. Wir sind keine Subjekte. Wir sind Datenquellen.
Enteignung im 21. Jahrhundert – wir sind mittendrin
Vorzugsweise nehmen sich digitale Unternehmen unsere Daten einfach, d. h. sie enteignen uns. Enteignungsprozesse sind in der Geschichte des Kapitalismus keine Seltenheit. Schließlich ermöglichten die koloniale Enteignung der amerikanischen Bevölkerungen und die spätfeudale Enteignung der englischen Landbevölkerung die „ursprüngliche Akkumulation“ und bildeten somit die Vorbedingungen des Industriekapitalismus. Auch der digitale Kapitalismus hat eine Vorbedingung. Diese besteht in der „ursprünglichen Datenakkumulation“, die Google durch weitreichende Datenenteignung als Pionier einleitete. Einmalige „digitale Diebstahlsakte“ reichen aber nicht aus, um den Profithunger der digitalen KapitalistInnen und ihrer digitalen Algorithmuswerwölfe zu stillen. Ständig neue und weitreichendere Datenenteignungsprozesse sind erforderlich, um den Marktwert digitaler Unternehmen zu steigern. Wie Zuboff betont, erfordert dies nicht nur eine permanente und zunehmende Überwachung – auch die Verletzung unserer Privatsphäre sowie die Bildung von Monopolen sind notwendige Begleiterscheinungen der digitalen Akkumulationslogik.
Als Beispiel für die Datenenteignungsprozesse im gegenwärtigen Kapitalismus dient abermals Google. Im Jahr 2007 begann „Google Street View“ auf der ganzen Welt Straßen und Gebäude zu fotografieren und bewarb das Ergebnis dann als neuen „Online-Dienst“. Wie bei der Suchmaschine stellte sich jedoch erst im Nachhinein heraus, dass die Bilder nicht Googles „Produkt“ und die NutzerInnen nicht Googles „KundInnen“ waren. Google Street View diente einzig und allein Google selbst: Zumindest 600 Gigabyte an persönlichen Daten (E-Mails, Passwörter, Telefonnummern, Kreditkarteninformationen, Fotos, Videos usw.) hat Google aus privaten WLAN-Netzen gestohlen. Dieses Beispiel soll illustrieren, dass digitale Unternehmen unser Verhalten mittlerweile auch in der realen „Offline-Welt“ verfolgen. Während uns also Cookies, Apps und „Like“-Buttons im Internet überwachen, verfolgen uns Sensoren, Kameras und Mikrochips auf der Straße, im Park und sogar innerhalb der eigenen Wohnung. In den Worten von Google-Gründer Larry Page: „Your whole life will be searchable.“
Digitale Arbeit schafft digitales Proletariat
Wenn digitale Unternehmen nicht durch Enteignung zu menschlichen Verhaltensdaten gelangen, dann greifen sie auf die Leistungen digitaler ArbeiterInnen zu. Es gibt heutzutage zwar viele unterschiedliche Tätigkeiten, die „digital“ verrichtet werden. „Idealtypisch“ gesprochen gilt aber: Im digitalen Kapitalismus wird digitale Arbeit verrichtet, um die digitalen Produktionsmittel von digitalen Unternehmen zu optimieren und somit den digitalen Produktionsprozess profitabler zu gestalten. Während also im Industriekapitalismus die ArbeiterInnen neue und bessere Maschinen produzierten, wird im 21. Jahrhundert menschliche Arbeitskraft eingesetzt, um Algorithmen zu trainieren. Sehr häufig wird digitale Arbeit daher als „KI-Training“ beworben, d. h. als Methode, um die künstliche Intelligenz digitaler Technologien zu verbessern, indem sie mit Daten aus menschlicher Hand gespeist werden. Wo künstliche Intelligenz noch nicht ausreicht, muss daher „künstlich“ nachgeholfen werden, indem Menschen die digitalen Technologien beim Lernen unterstützen. Amazon bewirbt dies als „künstliche künstliche Intelligenz“.
Amazon selbst vermittelt nämlich digitale Arbeit. Das Unternehmen besitzt einen eigenen „digitalen Arbeitsmarkt“ bzw. eine eigene „Online-Arbeitsplattform“. Auf Amazon Mechanical Turk können digitale ArbeiterInnen Aufträge entgegennehmen und diese dann für Amazons KundInnen erledigen. Diese Aufträge sind zumeist stumpfsinnig (z. B. alle Katzen auf Bildern auswählen) und schlecht bezahlt (90 Prozent aller Aufträge sind mit weniger als 10 Cent dotiert). Im Schnitt verdienen die ArbeiterInnen auf Amazon Mechanical Turk daher nur drei bis vier US-Dollar pro Stunde. Abgesehen davon gelten digitale ArbeiterInnen offiziell als „selbstständig“, sie sind also nicht sozial abgesichert, haben keine Mitspracherechte und keinen Kündigungsschutz. Sie sind den „Nutzungsvereinbarungen“ digitaler KapitalistInnen schutzlos ausgeliefert und haben keine Möglichkeit, deren „private Gesetze“ anzufechten. Sie arbeiten oft allein über den Computer von zu Hause aus und machen sich dabei selbst überflüssig, indem sie fremde Computer trainieren, die ihre Arbeit bald „effizienter“ erledigen. Digitale ArbeiterInnen bilden das digitale Proletariat des 21. Jahrhunderts.
Was es braucht: Wirtschaft in Gesellschaft einbetten
Der Wirtschafts- und Sozialwissenschafter Karl Polanyi bezeichnete den Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts als „entbettet“, d. h. als vollkommen aus der Gesellschaft „herausgelöstes“ Wirtschaftssystem. Ohne gesetzliche Einschränkung und ohne demokratische Mitbestimmung wurden hier Mensch und Natur schonungslos ausgebeutet. Auch der digitale Kapitalismus ist weitgehend „entbettet“. Er ist das Ergebnis einer politischen und einer technologischen Entbettung. Der Neoliberalismus hat dabei zahlreiche Regelungen zum Schutz von Mensch und Natur abgebaut, und mithilfe digitaler Technologien werden die noch bestehenden Regelungen umgangen. So experimentieren Google und Microsoft mit „schwimmenden Serverfarmen“ und „Arbeitsstädten“ in internationalen Gewässern, wo kein nationales Arbeitsrecht gilt. Gleichzeitig versuchen Airbnb und Uber mittels Apps ihre KundInnen direkt zu erreichen, um geltende Branchentarife, berufliche Zugangsberechtigungen und Mehrwertsteuerpflichten zu umgehen.
Es ist höchste Zeit, den digitalen Kapitalismus „einzubetten“. Die Menschen müssen vor den datenhungrigen Fangarmen digitaler Unternehmen geschützt werden. Wir sind dabei nicht allein. Es gibt Gegenbewegungen: Shoshana Zuboff, Max Schrems, EPIC, Epicenter.Works, Turkopticon, Dynamo uvm. Schlussendlich geht es aber darum, die Wirtschaft im Sinne aller Menschen zu gestalten. Die beste Art, um die Wirtschaft „einzubetten“, ist daher ihre Demokratisierung. Schaffen wir eine Wirtschaftsdemokratie!