Türkischer Rap – Die kritische Stimme der Türkei
Kürzlich wurden in der Türkei zwei Rap-Songs veröffentlicht, die die Gesellschaft mit deren Problemen und die Politik offen kritisieren.
Ein Gastbeitrag von Timothy Hatton
Rap kam in den 90ern aus Berlin in die Türkei. In Deutschland waren es die Kinder der türkischen Gastarbeiter, die auf der Suche ihrer Identität auf Rap gestoßen sind. Rapper Fuat war und ist eine Schlüsselfigur in diesem Prozess. Die ersten Lieder handelten von Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Über die Jahre aber, ging diese Botschaft (im türkischen und auch deutschen Rap) verloren. Materialismus, Sexismus, Rassismus und Xenophobie sind fester Bestandteil der heutigen Rapmusik.
Musik und Poesie gehört in der Türkei zum täglichen Leben
Liedermacher und Poeten haben schon immer zur Anatolischen Kultur gehört. Aşik (Barpoeten) waren Reisende, die durch ihre Musik ihren Lebensunterhalt verdient haben. So wurden Geschichten und Neuigkeiten von Ort zu Ort gebracht. Oft wurde die Lyrik auch als Medium zur Kritik an den Herrschenden genutzt.
Sehr viele in der Türkei kennen Gedichte und Lieder von vor über 100 Jahre bis heute. An fast allen gesellschaftlichen Treffen wird zu einem gewissen Zeitpunkt gesungen (Filmtipp: „The lost songs of Anatolia“).
Aber wie auch überall in der Welt, verändern sich gewisse Sachen in der Gesellschaft. Die heutige Jugend in der Türkei kennt, wenn überhaupt, Folklore nur wenn sie von einem DJ zusammen mit elektronischer Musik gecovert wird. Umso wichtiger ist es, dass aktuelle Musik Politik und Gesellschaft in ihren Texten thematisiert.
Allerdings war die Türkei schon immer ein gefährlicher Ort für kritische Stimmen. Ereignisse wie der Militärputsch in den 80er oder die Gezi-Park-Proteste 2013 haben dazu geführt, dass gegen Regierungskritiker und Gegner systematisch vorgegangen wird. Türkische Regisseure, Musiker, Schriftsteller und Schauspieler findet man deshalb sehr häufig im Exil oder sie wurden mundtot gemacht.
Rapper Ezhel und Şanişer zeigen auf, dass Rap sehr wohl politisch sein kann und nicht sexistisch, rassistisch oder xenophob sein muss. Sie fokussieren in ihre Musik auf Gleichberechtigung und kritisieren Gesellschaft und Politik. Sie bringen die junge Generation zurück zur Politik und erregen Aufmerksamkeit auf die Missstände im Land.
Die Veröffentlichung von Olay (Vorfall) von Rapper Ezhel und Susamam (Ich kann nicht mehr schweigen) von Şanişer und 18 weiteren Kollegen ist ein weiterer Schritt, der sehr wichtig, aber auch sehr gefährlicher für die Musiker ist.
In der ersten Woche haben die Lieder auf dem offiziellen Youtube-Kanal über 22 Millionen (Susamam) und 5,5 Millionen (Olay) Klicks erhalten. Fatih Akin, ein deutsch-türkischer Regisseur, der in seinem Filmen hauptsächlich interkulturellen Erfahrungen der Diaspora in Deutschland, sowie gesellschaftliche, politische und historische Ereignisse der Türkei thematisiert, hat sich sogar „Susamam“ auf den Arm tätowieren lassen.
Auch die Politik äußert sich zu diesen Lieder. So sagte etwa der stellvertretende Ministerpräsident Hamza Dağ: „Kunst sollte nicht das Medium für politische Manipulation und Provokation sein.“ Der Vorsitzender der MHP (Partei der nationalistische Bewegung) sagte sinngemäß in einem sehr verworrenen Satz, dass er das Ziel dieser Lieder kenne. Die Befürworter des Inhaltes wollten das Land spalten. Danach würde die Türkei einen Putsch im Namen des Raps erleben. Die regierungsnahe Zeitung Yeni Şafak schreibt, das Video sei ein “gemeinsames Machwerk extremer Randgruppen, der kurdischen Bewegung PKK sowie der Gülen Bewegung.“
Das ist auch die Meinung, die auf vielen TV-Kanälen geteilt werden. Gruppierungen wie zum Beispiel der US-amerikanische Geheimdienst wollten Unruhe in der Türkei stiften und würden hinter den Liedern stehen.
Es gibt aber auch Kritik von den Linken in der Türkei. Die Lieder seien nicht tiefgründig genug, die Künstler hätten keine ideologische Basis. Einige kritisieren, sie seien nicht deutlich genug und nirgends wird das kurdische Volk und deren Rechte erwähnt. Auf Twitter wurden Beiträge mit dem Hashtag Sustunuz – „Ihr habt geschwiegen.“ geteilt. Dabei wird kritisiert, dass die Künstler nichts zum Putschversuch 2016 und den Todesopfer der PKK sagen.
Hier nun aber das Video von EZHEL (mit englischem Text):
In sehr kurzen Sequenzen zeigt das Video die politischen Ereignisse in der Türkei der letzten Jahre. Sie sind nur zu verstehen wenn man sich in den Vorfällen der letzten Jahre auskennt. Ezhel zeigt alle Ereignisse und sagt damit, dass jeder Mensch das Recht auf Leben hat und Gewalt egal von rechts, links oder der Regierung abzulehnen ist.
Ein Auszug der Szenen:
- Pippa Bacca, italienische Feministin, die 2008 beim Trampen durch die Türkei ermordet wurde,
- Ermordung von Ali Ismail Korkmaz während der Gezi-Proteste,
- Zugunglück (eines von vielen in den letzten Jahren),
- Minenunglück bei denen 2014 über 300 Menschen starben,
- Reza Zarraf, iranischer Mittelsmann in einem Korruptionsskandal zwischen der Türkei und Iran,
- Erran Bülbül (Ermordung durch PKK),
- totes geflüchtetes Kind Aylan Kurdi an einem griechischen Strand,
- Szenen mehrerer Vergewaltigungsfälle in der Türkei,
- Diskussion über die Evolutionstheorie (soll im Bildungssystem nicht mehr gelehrt werden),
- Szenen verschiedener Menschen, die die Gefechte in der Osttürkei 2015 in Frage gestellt haben und darauf ihren Arbeitsplatz verloren haben,
- Didam Akay, eine Transgender, die aus Verzweiflung Selbstmord begannen hat,
- Szene aus dem Putsch-Versuch 2016,
- Firat Yilmaz, ein Mitglied der faschistischen Gruppierung Ülkü Ocaklari, wurde 2015 von kurdischen Aktivisten getötet,
- Bild einer Universitätsdozentin, die 2019 von einem ihrer Studenten getötet wurde,
- Beerdigung von Berkin Elvan (Gezi-Aktivist),
- Explosion in Suruç 2015, 34 Menschen kommen dabei ums Leben, die Gruppe war auf dem Weg um Hilfe in Kobane (Nordsyrien) zu leisten,
- mehrere Szenen von Polizeigewalt während der Gezi Proteste,
- Ermordung des russischen Botschafter Andrej Karlow,
- Jamal Khasoggi, saudischer Regimekritiker, wurde in der saudischen Botschaft in Istanbul ermordet,
- Verhaftung Ezhels am Flughafen 2019,
- Zahl der Frauenmorde in der Türkei,
- mehrere Kriegsszenen die wahrscheinlich auf die Militäroperationen in der Osttürkei und Syrien anspielen.
Das Lied Susamam gerappt von einem kollektiv, initiiert von Şanişer und 18 weiteren Musikern (Fuat, A. Slang, Zen-G, Aga B, Y. Sensura, M. Şenel, Kamufle, Mirac, Defkhan, Aspova, Sehabe, Ozbi, D. Tekin, Sokrat St, Beta, S. Uraz, Hayki, Ados) ist über 14 Minuten lang und gliedert sich in 17 Kapitel:
1: Natur (Doğa)
2: Dürre (Kuraklık)
3:Gesetz (Hukuk)
4: Gerechtigkeit (Adalet)
5: Gesetz (Hukuk)
6: Türkei (Türkiye)
7: Istanbul (Istanbul)
8: Bildung (Eğitim)
9: In Frage stellen (Sorgulamak)
10: Frauenrechte (Sorgulamak)
11: Gewalt gegen Frauen (Kadına Şiddet)
12: Heimweh (Gurbet)
13: Tierrechte (Hayvan Hakları)
14: Selbstmord (İntihar)
15:Faschismus (Faşizm)
16: Straße (Sokak)
17: Verkehr (Trafik)
Das sind einige der Themen, die die Gesellschaft in der Türkei bewegen und beschäftigen.
Man kann und sollte ein Buch darüber schreiben, um alle Wortspiele und Anspielungen in diesem Lied verständlich zu erklären. Die Titel der Kapitel und die Bilder sagen viel. Hier ein Versuch ein paar Sachen zu erklären:
Aktuell gibt es einen großen Protest auf dem Berg Ida (Kazdağı), ein kanadisches Unternehmen ist dabei diesen Berg abzuholzen.
#Adalat ein Hashtag der in den Sozialen Medien millionenfach geteilt wurde. 2017 hat der Vorsitzende der CHP (sozial demokratische Oppositionspartei) Kılıçdaroğlu einen Marsch der Gerechtigkeit (Adalet yürüyüşü) gestartet. Er lief von Ankara bis nach Istanbul, um auf die Säuberungsaktion der Regierung aufmerksam zu machen. Nach dem Putschversuch 2016 wurden über 50.000 Menschen inhaftiert. Bei der Endkundgebung fanden sich über 2 000 000 Menschen zusammen.
Es werden unzählige Missstände im Gesetz und Gesellschaft angesprochen: Mörder die freigesprochen wurden, Menschen die getötet werden ohne das ein Urteil gefällt wird.
“Wenn du heute verhaftet wirst, wird kein Journalist da sein um darüber zu schreiben.”, ist eine Anspielung auf die vielen Journalisten in Haft.
Jedes Jahr werden Schätzungsweise mehr als 300 Frauen in der Türkei ermordet. In vielen Fällen wird der Mörder von der Familie in Schutz genommen.
Die Gentrifizierung in Istanbul (repräsentativ für die Türkei) wird ebenso thematisiert. Armenviertel werden “gesäubert” für neue teure Wohnungen. Sie sagen, wenn du niemand in Aksaray kennst hast du verloren. Aksaray bedeutet “Weißer Palast”, so wird der Präsidentenpalast in Ankara genannt.
Jede größere Stadt hat eine Universität, dennoch müssen viele Kinder auf den Dörfer immer noch kilometerweit zur Schule laufen.
Es wird aufgefordert die Sachen im Leben in Frage zu stellen. Vertrauen und Antworten in der Kunst und Wissenschaft zu finden. Auch die Drogenprobleme der Jugendlichen der türkischen Diaspora in Deutschland werden angesprochen.
Es werden immer wieder Fälle von Tiermisshandlungen bekannt. Tiermisshandlung werden nur mit Geldstrafe geahndet.
Die Wirtschaft erlebt einen Tiefpunkt in der Türkei, viele Universitätsabgänger finden keine Arbeit und einige begehen wegen dem sozialen Druck Selbstmord. Es gibt auch einige Fälle von Homosexuellen und Transgender, die sich aus Verzweiflung das Leben genommen haben.
Kinder und Jugendliche die auf der Straße Müll einsammeln um etwas Geld zu verdienen, gehört zum alltäglichen Straßenbild in der Türkei.
Todesfälle im Straßenverkehr verursacht durch reiche Kids die keine Probleme haben das “Blutgeld” (Entschädigung für die Familie im Todesfall) zu bezahlen.
Wir werden sehen welche Steine diese Lieder zum Rollen bringen.
Titelbild: t24.com.tr