Sonntag ist Büchertag: „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen
Von Bernhard Landkammer
Im Feuilleton wurde im Jahr 2018 ausführlich darüber debattiert, ob es in der Jugend eine Art Sehnsucht nach dem Landleben gibt. Dabei stellt sich die Frage, ob eine derartige Bewegung – wenn sie denn stattfindet – als eine Art der Flucht vor der Geschwindigkeit der Stadt rebellisch oder doch konservativ zu werten ist. Popkulturell lässt sich diese Diskussion trefflich am am Beispiel diverser Äußerungen von Charlotte Roche nachvollziehen – begleitet von der Furcht vor einer zunehmende sozialen und ökonomischen Verarmung von Land.
Die persönlichen und politischen Kämpfe und Fragen, die dieser Entwicklung zugrunde liegen, spielen auch in Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ eine wichtige Rolle. Nach dem Erfolg des Vorgängers „Altes Land“, der einen festen Platz in den Spiegel-Bestsellerlisten innehatte, wird auch hierin das Leben auf dem Land behandelt. Im Gegensatz zur aktuellen Debatte wird hierbei ein anderer Blickwinkel gewählt. Ingwer Feddersen, der Protagonist des Romans, kehrt nach vielen Jahren zurück in sein Heimatdorf, um sich um seine Eltern zu kümmern. Hierzu lässt er seine Karriere als Dozent für Archäologie in Form eines Sabbaticals ruhen und verabschiedet sich auch von seiner langjährigen, altgewordenen WG. Selbst bereits knapp vor den 50, weiß Ingwer nicht mehr genau, wo er eigentlich steht – die Flucht aus der Stadt gemeinsam mit der Rückkehr aufs
Land dient als Versuch einer Selbstfindung.
Dabei thematisiert der Roman auf unterschiedlichen Ebenen den Verlust: der Jugend, der Heimat, der Familie, der Vergangenheit, der Erinnerung, der Gegenwart und vielleicht auch der Zukunft. Es zieht sich eine permanente Sehnsucht durch den Text, die durch die Unerreichbarkeit eines Abschlusses sowie die permanente Wandlung der Dinge in unerreichbare Ferne rückt.
„Mittagsstunde“ ist sprachlich umwerfend. Es dominieren einfache Sätze und ein langsam wogender Sprachfluss, was die triste Handlung perfekt einfängt. Dabei ist der Roman trotz der Fokussierung auf Charaktere und das Persönliche stets auch politisch. So geht es nicht nur um die Sehnsucht von Ingwer Feddersen nach sich selbst, sondern auch um die Entwicklung seines Heimatdorfes. Diese dient als Beispiel für die zunehmende Kapitalisierung von Land in den 70er-Jahren, die sich gesellschaftlich bis heute auswirkt.
Dörte Hansens Text bildet eine Bestandsanalyse, wie man das, was sich heute entwickelt, zu großen Teilen durch die Aktualität von Klassenfragen heraus erklären kann. Die Herkunft Ingwer Feddersens aus einer angeblich ungebildeten Schicht trifft auf seinen vom konservativen Schullehrer geförderten Drang, an die Universität zu gehen. Sein Versuch, Strukturen zu entkommen, führt zu einer Fremdheit mit seiner Herkunft, die er allerdings nie abschütteln kann und das auch gar nicht will. Gleichzeitig ist er in der angeblich gebildeten Welt der Universität ein Außenseiter. Das Ausgestoßen-Sein in allen Bereichen seines Lebens ist sozial determiniert und führt zum Verlust von Identität.
So beeindruckend der Handlungspfad und die Sprache des Romans sind, besteht im Versuch, etwas wieder zu erlangen und zurückzuholen allerdings auch ein Moment der Irritation. Eine gewisse Form von konservativem Denken durchzieht den Text – ob kritisch, satirisch oder doch sehr ernst gemeint, wird dabei nie ganz klar. Das muss absolut nichts Schlechtes sein, wird doch durch all diese Aspekte das Nachdenken über politische Fragen angeregt und verschiedene Optionen vorgelebt.
FAZIT: „Mittagsstunde“ ist ein trister, perfekt für die kalte Jahreszeit geeigneter Roman, der sprachlich begeistert. Er ist zugleich ein politisch-persönlicher Text über gesellschaftliche Probleme und kapitalistische Prozesse. Im Zentrum steht die Behauptung, es gäbe keine Klassen mehr, die mit einer Projektion von Stereotype auf Mitglieder unterprivilegierter Klassen einhergeht. Auf beiden Ebenen ist „Mittagsstunde“ ein kritisch zu hinterfragendes, dennoch sehr lohnenswertes Stück deutschsprachiger Gegenwartsliteratur.