„Ein Gewaltausbruch dieses Ausmaßes war nicht vorhersehbar“
Alfred Almeder – Nicaragua-Brigadist und politischer Aktivist – zur Situation in Nicaragua – Nicaragua-Nachrichten
Du bist seit 30 Jahren mit Nicaragua verbunden, politisch als Brigadist der 80-Jahre und auch familiär. Du besuchst das Land regelmäßig und hast viele Freunde dort, mit denen du in Kontakt stehst. Wie siehst du die Entwicklung Nicaraguas und was sagst Du zur gegenwärtigen Krise?
Für mich ist das eine wirkliche Katastrophe. Das hängt natürlich einerseits mit den starken persönlichen Beziehungen zusammen, aber es gibt auch noch einen anderen wesentlichen Aspekt, der für mich völlig überraschend kam. Nicaragua hat eine sehr gute Entwicklung hinter sich, es hat die höchsten Wirtschaftswachstumraten in Zentralamerika und der Karibik zu verzeichnen, die Armutsreduzierung ist doppelt so hoch wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, was sich wieder positiv auf die Sicherheitslage im Land auswirkt – so ist die Mordrate im „reichen“ Costa Rica doppelt so hoch wie im „armen“ Nicaragua. Die anderen zentralamerikanischen. Länder haben hier nach wie vor erschreckende Zahlen vorzuweisen, die 6 bis 10 Mal so hoch sind. Auch der stetig wachsende Tourismus ist hier ein typischer Indikator. Aber am bedeutendsten von allem habe ich die innergesellschaftliche Versöhnung empfunden. D.h. der nach der Revolution fast 10 Jahre dauernde Krieg der von den USA finanzierten Contra, mit ihren Sympathisanten in der Bourgeoise, schien – nicht zuletzt der demografischen Entwicklung eines typischen 3.Welt-Landes geschuldet – für mich in den Köpfen der Menschen völlig überwunden zu sein und keine reale Bedeutung für die Gegenwart zu besitzen. Ein Gewaltausbruch dieses Ausmaßes war nicht vorhersehbar.
Die Kampfformen der Protestierenden und ihrer Unterstützer ähneln jenen des Aufstands gegen Somoza, Parolen sind dem Kampf gegen die Diktatur und die Contras entlehnt. Ist das vergleichbar? Ein Kampf um Freiheit und gegen „eine Diktatur“? Was sagen deine Freunde in Nicaragua dazu?
Es ist einerseits völlig absurd, was da momentan geschieht, weil die Handelnden nicht einmal rudimentär als politisch reif bezeichnet werden können. Da sind nicht einmal plakativ konstruktive Ansätze erkennbar. Wer jetzt von Diktatur spricht, der weiß nicht was dies wirklich bedeutet. Sie sind aber auch gleichzeitig die Bestätigung für das politische Versagen der FSLN im „modernen Nicaragua“. Die Parallelen zur europäischen (österreichischen) Sozialdemokratie sind frappierend. Man lebt mit dem Unternehmerverband COSEP „Sozialpartnerschaft“ auch mit entsprechenden „wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten“ der Frente-Elite als unternehmerische Individuen, achtet aber doch darauf, dass sich auch die Lebenssituation für die Ärmsten der Gesellschaft spürbar verbessert (Anmerk.: Kreisky hatte sich aus diesem Grund vom „Erfolgsunternehmer Androsch“ noch getrennt, Ortega und seine Frau stecken selbst mitten drin). Im Zweifelsfall wird aber dem Primat Business vor Ideologie gehuldigt, wie bei der Sache um den ohnedies nie zustandekommenden Kanalbau. Politische Basisarbeit gibt es viel zu selten, da sind die evangelikalen Freikirchen als „Sozialarbeiter“ viel präsenter in den Barrios der Armen, die traditionell die Kernschicht der Sandinisten waren. Nicaragua ist immer noch eines der ärmsten Länder am Kontinent, wenn die Schere da größer wird, kommen auch verhältnismäßig harmlose Sozialreformen nicht gut an. Nur Revolutionsfolklore schafft kein wirklich politisches Bewusstsein, schon gar nicht, wenn dann auch kompromisslos paternalistisch agiert wird.
Geht es um einen Regime Change, ähnlich wie in Venezuela? Die dortige rechte Opposition hat ja die Politik Daniel Ortegas als „Export der Repression von Präsident Maduro“ bezeichnet (was übrigens nicht gerade von hohem geschichtlichen Bildungsgrad der Politiker der dortigen „Mesa de Unidad Democrática“ zeugt). US-Medien und Politiker sprechen von einem „nicaraguanischen Frühling“!
Der steht auf der Tagesordnung, spätestens seit die Aufmerksamkeit des Westens (eigentlich nur der USA, die „europäischen Pudeln“ folgen ohnedies allen Befehlen, selbst wenn es gegen ihre eigenen Kerninteressen geht, wie in der Ukraine) auf die aktuelle Situation gerichtet wurde. Wenn man berücksichtigt, dass der Imperialismus wie ein blutsüchtiger Vampir in immer kürzeren Zeitabständen neue Waffengänge initiiert, würde sich das kleine Nicaragua als ideales Opfer eignen, jedenfalls ist die Terminologie „nicaraguanischer Frühling“ ein großes Alarmsignal. Wenn man bedenkt, dass die „humanitären Menschenrechtskriege“ im Nahen Osten in den letzten 20 Jahren Millionen Opfer gefordert haben, so wäre eine kurze Aktion mit dem Mandat der OAS zur „Wiederherstellung der Demokratie“ mit höchstens ein paar 10.000 Toten der „Weltgemeinschaft“ nicht einmal ein Wimpernzucken wert. Und was danach geschieht, wird noch weniger Interesse hervorrufen.
Was ist wichtig für politisch denkende Menschen und FreundInnen Nicaraguas? Was tun?
Alle diejenigen, die heute bewusst Öl ins Feuer gießen, machen sich mitschuldig an weiteren Gewaltausbrüchen bis zur o.a. Interventionsgefahr durch die USA. Und diese Verantwortung ist umso größer bei denen, die genügend politische Erfahrung haben. Es braucht Stimmen der Vernunft, die einen ernsthaften innernicaraguanischen Dialog ins Leben rufen und aktiv begleiten, ebenso wie die „Frente“ eine politische Erneuerung benötigt. Es gilt das Erreichte und den Weg zur wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft nicht zu verlassen, aber Demokratisierungsprozesse sind unverzichtbar. Doch nicht nach dem westlichen Muster der „orangenen Revolutionen“ mit Ausverkauf des Nationalvermögens und politischer Folgsamkeit bis zur Selbstaufgabe, den Wünschen der Herren in Washington folgend.
Trotzdem schaffen es auch in diesem Fall die hiesigen Medien wieder, ihre mittlerweile teilweise bis zur Degeneriertheit entwickelte Inkompetenz unter Beweis zu stellen: Wenn sonst ständig auf dem Klavier der neoliberalen Sachzwänge gespielt wird (z.B. Überlebensfrage für einen Staat wie Österreich als Mitglied der EU) mit allen seinen sozialen Verwerfungen und gleichzeitig Ortega als Präsident eines bitterarmen Landes vorgeworfen wird, er wäre zuwenig Sozialist und Revolutionär, ist das nur mehr als lächerlich zu bezeichnen. Österreich soll allen Bedingung von CETA zustimmen, weil das ja sonst unserer Reputation in Brüssel schaden könnte, aber die Sandinisten sollen es dem IWF und der Weltbank zeigen.
Alfred Almeder, Bediensteter der Wiener Linien, sozialdemokratischer Gewerkschafter und politischer Aktivist. Brigadist in Nicaragua der 80-er Jahre, engagiert in einer Friedensinitiative im Donbass (Ost-Ukraine). Seit 30 Jahren mit einer Nicaraguanerin verheiratet und daher schon familiär bedingt mit starkem Bezug zum Alltagsleben der Menschen in diesem zentralamerikanischen Land.
Das Interview erschien in der April-Ausgabe (Nr. 471) der Nicaragua-Nachrichten, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Titelbild: Voice of America (commons.wikimedia.org, public domain)