Verursachen Rettungen aus Seenot steigende Flüchtlingszahlen? – Ein Faktencheck
Von Max Aurel
Dass dieser Faktencheck überhaupt nötig ist, scheint ein wenig surreal. Menschen, genauer gesagt, Mitglieder von Hilfsorganisationen, werden dafür kritisiert, dass sie Menschenleben retten. Und das nicht von halbbesoffenen Typen, die sich im Beisl um die Ecke den Frust von der Seele reden (und trinken). Nein, Außenminister Sebastian Kurz, sprach in einem Presse-Interview davon, dass der „NGO Wahnsinn beendet werden solle.“ Der italienische Anwalt Carmelo Zuccaro geht noch einen Schritt weiter und will einige der Nichtregierungsorganisationen wegen „Beihilfe zu Menschenhandel und Schlepperei“ verklagen. Die Grundaussage ist dieselbe: NGOs helfen Schleppern dabei, Flüchtlinge über das Mittelmeer zu schleusen. Sei es nun direkt, wie es Zuccaro behauptet, oder indirekt, indem sie die Menschen in Seenot retten, was die Schlepper wiederum taktisch ausnutzen würden. Dadurch, dass Menschen in Seenot geholfen wird, hätten weniger Menschen Angst vor der Überreise von Nordafrika nach Italien und sich deshalb vermehrt auf den Weg gemacht. Das Retten von Menschenleben soll also indirekt die Flüchtlingszahlen vergrößern. Den Zynismus, die Menschenfeindlichkeit und den offensichtlichen Rassismus innerhalb dieses Gedankens einmal beiseite: Stimmt die Behauptung überhaupt? – Ein Faktencheck.
Mare Nostrum
Um das zu untersuchen sehen wir uns die mittlere Mittelmeerroute, also die Route über Nordafrika nach Italien im Zeitraum der vergangenen acht Jahre an. Die untenstehende Grafik zeigt die Entwicklung der Anzahl von Personen an, die über die mittlere Mittelmeerroute nach Europa gekommen sind.
Unser Untersuchungsobjekt ist hierbei das italienische Seenotrettungsprogram „Mare Nostrum“, welches im Herbst 2013 ins Leben gerufen wurde, nachdem bei zwei Schiffbrüchen vor Lampedusa im Oktober 2013 mehr als 600 Menschen ihr Leben verloren haben. Mare Nostrum lief von 2013 bis 2014 und wurde dann von der Operation Triton der EU Grenzschutzbehörde Frontex abgelöst. Unter Mare Nostrum waren Schiffe und Helikopter der italienischen Marine bis kurz vor die libysche Küste aktiv, um Schiffe, völlig überladen mit Flüchtlingen, aus Seenot zu retten. Innerhalb der Operation wurden mehr als 150.000 Menschenleben gerettet.
Vergleicht man die Zahlen der Ankünfte von 2013 auf 2014 fällt in der Tat ein starker Anstieg auf. Die Anzahl der Flüchtlinge, die über die mittlere Mittelmeerroute nach Europa kamen, nahm von 2013 auf 2014 um 277% zu. Stimmt es also, dass eine wahrscheinliche Rettung aus Seenot mehr Menschen dazu anregt, sich auf den Weg zu machen? Unwahrscheinlich, wenn man sich die Entwicklung der Zahlen genauer ansieht. Von 2012 auf 2013 stieg die Anzahl der Flüchtlinge sogar um 288% an, zu diesem Zeitpunkt bestand das Programm noch gar nicht. 2014 kamen rund 45% der Flüchtlinge entweder aus Syrien oder Eritrea. Der Konflikt in Syrien, welcher 2013 mit zahlreichen Giftgasangriffen eine neue Eskalationsstufe erreichte, war der Treiber der Zahlen syrischer Flüchtlinge (UNHCR, 2013), welche sich beinahe verdreifachten (Frontex, 2014). Bei den Eritreern war es vor allem die Verschärfung der Menschenrechtslage im eigenen Land, mit willkürlichen Verhaftungen, gleichgeschalteten Medien und Strafzahlungen, falls man das Land verlassen sollte (Human Rights Watch, 2013). Eritreer machten rund 20% der Neuankömmlinge aus, auch ihre Anzahl stieg um fast 300% im Vergleich zum Vorjahr. Ein wichtiger Grund, warum viele Eritreer nach Europa kamen, war zudem die verschärfte Lage in Nachbarländern, in denen sie sich bisher aufgehalten haben, vor allem dem Sudan und Äthiopien (UNHCR, 2013).
Libyen, ein de facto “Failed State”
Des weiteren ist der Anstieg auf die zunehmend instabile und chaotische politische und ökonomische Situation in Libyen zurückzuführen. Unter dem Diktator Gaddafi gab es politische Repression und Verfolgung politischer Gegner, doch wirtschaftlich gehörte das Land zu den stärksten des afrikanischen Kontinents. Nach dem Sturz des Regimes 2011 fiel das Land in die Hände konkurrierender Milizen, die alle das Gewaltmonopol der schwachen Zentralregierung nicht anerkannten. Im Jahr 2014, dem Jahr in dem Operation Mare Nostrum aktiv war, brach ein Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Parteien aus, weil einige Parlamentsparteien das Wahlergebnis der Parlamentswahl nicht akzeptieren wollten (Wikipedia, 2017). Zusätzlich zu den rund 2.4 Millionen Flüchtlingen, die von außerhalb nach Libyen kamen, gab es weitere 435.000 libysche Binnenflüchtlinge. Die Infrastruktur des Landes war praktisch nicht mehr existent, das Bruttoinlandsprodukt brach um 24% im Vergleich zum Vorjahr ein (CIA World Factbook, 2017). Ein Großteil der Beschäftigten war im Staatssektor angestellt, doch da die Regierung die Kontrolle über große Teile Libyens verloren hatte, sanken auch die Steuereinnahmen signifikant, das Budgetdefizit stieg auf 14,1%, wodurch die Regierung sich gezwungen sah, vielen Staatsbediensteten ihren Job zu streichen.
Der Anstieg der Neuankömmlinge in Süditalien begann also schon vor der Mare Nostrum Operation. Dass die italienische Marine vermehrt Flüchtlinge auf offener See aufgriff und rettete, hatte also keinen signifikanten Einfluss auf die Anzahl der Menschen, die sich von Libyen auf den Weg machten. Die Verschärfung des Konfliktes in Syrien, die Lage in Eritrea, vor allem aber der ausgebrochene Bürgerkrieg in Libyen sind die Faktoren, die zu dem rasanten Anstieg der Flüchtlingszahlen auf der mittleren Mittelmeerroute geführt haben.
Der Tod als Abschreckung
Doch wir gehen bei diesem Faktencheck noch ein bisschen weiter. Ein Hauptargument der Personen, die die Arbeit der NGOs und Helfer im Mittelmeer kritisieren, sei, dass man mehr auf Abschreckung setzen sollte. Diese Abschreckung soll, implizit, durch Todesopfer geschehen. Wenn Migranten und Flüchtlinge von den vielen Todesopfern hören, überlegen sie es sich zweimal, selber in eines der seeuntauglichen Boote zu steigen, so das Argument. Eine Analyse der Todesopfer, verglichen mit der Anzahl der Ankömmlinge, zeigt, dass diese (unfassbar zynische) Behauptung nicht haltbar ist. In Jahren mit mehr Todesopfern gab es auch mehr Neuankömmlinge (wobei die Kausalität hier andersherum sein dürfte: mehr Neuankömmlinge bedeuten mehr potenzielle Todesopfer bei der Überfahrt).
Um den Zusammenhang zwischen Todesopfern und Neuankömmlingen zu analysieren habe ich in einer Excel Mappe eine kleine Regression drüber laufen lassen. Die Regression kommt auf einen R2 Wert von 88,7%, was bedeutet, dass 88,7% der Variationen in der Datenreihe von der einfachen Regression erklärt werden können. Bedeutet also, dass die Behauptung „je mehr Neuankömmlinge, desto mehr Todesopfer“ überwiegend stimmt. Umgekehrt ist die Behauptung, dass Todesopfer als Abschreckung die Anzahl der Flüchtlinge reduziert, zu verwerfen.
Operation Triton
Der letzte Teil des Faktenchecks beschäftigt sich mit der “Operation Triton”. Das ist ein von Frontex gestartetes Programm mit dem primären Ziel der Grenzsicherung, anders als Mare Nostrum, welches ein zur humanitären Hilfe entwickeltes Programm war. Der Einsatzbereich der Operation Triton erstreckt sich auf 30 Seemeilen vor der italienischen Küste, Lampedusa, die kleine Insel nahe Libyen, nicht mit eingeschlossen. Das bedeutet, dass das Einsatzgebiet wesentlich kleiner ist als bei Mare Nostrum. Der Rückzug dieser staatlichen Schiffe machte den Einsatz von Nichtregierungsorganisationen überhaupt erst notwendig, wobei diese erheblich schlechter ausgestattet sind und wesentlich geringere Kapazitäten haben als staatliche Organisationen.
Der Paradigmenwechsel von 2014, indem man nicht mehr auf humanitäre Hilfe setzte, sondern auf Grenzsicherung, hat sich hingegen nicht signifikant auf Flüchtlingszahlen ausgewirkt. 2015 sanken die Zahlen der Flüchtlinge leicht, wohingegen sie im Jahr 2016 ein neues Rekordhoch mit 181.126 registrierten Ankünften erreichten. Die Behauptung, NGOs und die Rettung aus Seenot seien der Haupt-Pull-Faktor für Flüchtlinge und Migranten, lässt sich angesichts dieser Zahlen nicht bestätigen. Ein Faktum, dass Forscher der Universität Florenz in einer Studie ebenfalls herausfanden. Die Push-Faktoren, eine miserable Lage in den Heimatländern sowie das Chaos in Libyen, sind um einiges größer als dieser vermeintliche Pull-Faktor.
Fazit
Aufgrund der Analyse lässt sich die Argumentation, dass vor allem Abschreckung und totale Grenzsicherung die Zahl der Flüchtlinge reduzieren soll, nicht nachvollziehen. In den letzten drei Jahren hat die Europäische Union ihr Paradigma bezüglich Rettung aus Seenot geändert und setzt viel mehr auf eben jene Grenzsicherung. Die Anzahl der Flüchtlinge hat das jedoch nicht reduziert. Auch haben gestiegene Todesopferzahlen nicht den „gewünschten Effekt“ der Abschreckung. Nichtsdestotrotz kann die Tatsache, dass Schlepper und Kriminelle die Retter und Helfer strategisch ausnutzen schwer leugnen. Frontex analysierte in ihrem Risk Analysis Bericht 2017, dass Aktivitäten von Frontex und NGOs systematisch von Kriminellen ausgenutzt wurden, die nicht seetüchtige Schiffe Richtung Italien losschickten, mit dem Kalkül, dass sie gerettet werden. Die Rettung der Flüchtlinge habe „unbeabsichtigte Konsequenzen“ gehabt, so der Bericht. Es heißt aber auch, dass dies nicht die Hauptschuld der Helfer war, sondern die der Kriminellen, deren einziges Ziel war, ihre Kosten zu minimieren und damit ihren Profit zu maximieren. Die Schlepper hätten zudem einen taktischen Vorteil, nämlich dass sie sich auf die Erfüllung der International Convention for the Safety of Life at Sea verlassen können, ein Problem, welches schon seit geraumer Zeit bestehe (Frontex, 2017) Dieser Effekt allerdings, ist statistisch kaum wahrnehmbar und dürfte nur einer von vielen Faktoren sein, die Menschen dazu bringt, diese gefährliche Überfahrt aufzunehmen.
Wenn die EU das Problem an ihrer Südgrenze in den Griff bekommen will, sollte sie sich um die „Nachfrage nach Überfahrten“ kümmern. In Libyen muss dringend wieder Recht und Gesetz herrschen, damit die Schmuggler nicht das Macht- und Rechtsvakuum zu ihrem Vorteil ausnutzen können. Man sollte seine Anstrengungen auf die wahren Kriminellen, die auf schäbigste Art und Weise Menschenleben aus Profitgier aufs Spiel setzen, konzentrieren, und nicht, die innerhalb des Systems zur Profitmaximierung ausgenutzt werden und sich an geltendes Recht und moralische Maßstäbe halten. Anerkennung für die unermüdliche Arbeit von Helfern und Rettungsorganisationen, die dort um Menschenleben kämpfen, wovon sich die EU zurückgezogen und auf das Modell „Festung Europa“ gesetzt hat, wäre dringend angebracht. Sie sind die wahren Helden.
Titelbild: facebook.com/seawatchprojekt