„Was denken sich diese Flüchtlinge eigentlich dabei?“
Auf der Balkanroute durchqueren Flüchtlinge scheinbar sichere Asylländer bevor sie zu uns kommen. Warum bleiben sie nicht dort? Eine Fluchthelferin fühlt mit.
Asylkalender, 22. Dezember 2015.
Ich sitze in meinem Auto auf der Rückfahrt von Györ nach Wien, es ist Mitternacht. Neben mir am Beifahrersitz ein junger Familienvater aus Afghanistan. Er ist todmüde und kann doch nicht schlafen. Er hat Angst, will immer wachsam sein. Sein Atem wird erst ruhig als wir bereits die ungarisch-österreichische Grenze überquert haben. Auf der Rückbank schläft ein 3-jähriger Bub im Kindersitz. Seine Mutter sitzt neben ihm und blickt mich an. Sie hält ihr 6-Monate-altes Mädchen fest eingewickelt an ihren Körper. Ich schaue ihr in die Augen, sie versucht zu lächeln – es gelingt nicht wirklich.
Die Familie kam, wie fast alle die es im Moment nach Europa schaffen, über die sogenannte Balkanroute.
Ich stelle mir vor, was ich tun würde, wenn mein Leben in der Heimat zu gefährlich geworden ist. So gefährlich, dass ich die Flucht antreten muss. Ohne Gepäck, da ich meine kleinen Kinder tragen muss. Nur mit dem Gewand, das ich anhabe am Tag des Aufbruchs. Mein Handy nehme ich mit und all mein restliches Geld. Meinen Pass. Für mehr gibt es weder Zeit noch Möglichkeit.
Wir schaffen es per Bus und zu Fuß bis in die Türkei. Die Flüchtlingslager sind heillos überfüllt. Es gibt hier wohl keine Zukunft für uns. Meine Kinder könnten nie in die Schule gehen, es gibt keine staatlich geförderten Sprachkurse, unser Flüchtlingsstatus wird nicht anerkannt. Die ärztliche Versorgung ist mangelhaft und wir wären de facto obdachlos. Auch wenn es lebensgefährlich ist weiterzureisen, wir können nicht bleiben.
Das Schicksal war in dem Moment der Überfahrt auf eine griechische Insel gnädig mit uns, das Meer blieb ruhig. Ich halte meine Kinder so fest ich kann, mein Sohn weint. Er kann nicht verstehen wieso seine Eltern Angst haben. Ihm ist kalt, alle sind völlig durchnässt. Was sagt man einem 3-jährigen, warum man ihn Tag und Nacht weiterschleppt? Ohne Ruhe, ohne Spielzeug, ohne Lachen? Ich denke mir eine Geschichte aus von einem Abenteuer, einer Weltreise an deren Ende alles gut ist. Ich hoffe so sehr dass er sie mir glaubt.
Griechenland ist für sehr viele nur ein Durchreiseland. Die Flüchtlingslager sind Baracken, es stinkt, es ist dreckig, es gibt zu wenig zu Essen, die HelferInnen sind heillos überfordert. Es grassieren ansteckende Hautkrankheiten und Durchfall. Niemand, der uns dolmetscht oder weiterhilft. Wir bekommen einen Zettel mit der Aufforderung, das Land innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Wir finden Schlepper die uns fast unser gesamte Geld abnehmen, uns aber über die Grenze bringen.
Endlose Fußmärsche durch Mazedonien, Serbien, Ungarn. Wir sind gezeichnet von den Strapazen. Ständig hungrig und müde. Sind wir schon in Sicherheit? Nur vor Bomben und Scharfschützen, nicht jedoch vor der Misshandlung durch „Sicherheits“-kräfte und der Polizei. Nicht in Sicherheit vor Kälte, Hunger, Krankheiten, Ausweglosigkeit. Kein schützendes Dach, keine Perspektive auf eine glückliche Zukunft. Wir wissen, dass – je nach Antragsland – 60 bis 90 Prozent der Asylersuchen afghanischer Staatsangehörige negativ entschieden werden. Wir müssen also weiter und weiter…
An alle Schreier, die flüchtende Menschen in eines der „sicheren“ Asylländer vor Österreich abgeschoben sehen wollen: bitte hinterfragt Eure Empathiefähigkeit und informiert Euch über die Zustände! Traiskirchen ist ein Vergnügungspark im Vergleich zu manchem Szenario, das auf die Menschen in diesen Ländern warten würde.
Wir erreichen Wien gegen halb 2 Uhr nachts. Ich sage meinen Fahrgästen, dass sie nun sicher sind. Ich zweifle, ob das wirklich stimmt aber möchte Zuversicht zeigen. Eine kurze Umarmung, ein Spielzeugauto für den Kleinen und ein paar Bananen. Ich hoffe sehr dass ihre Flucht bald zu Ende sein kann.
Text: Eva Aigner
Grafik: Michael Wögerer
Foto: Flüchtlinge auf dem Bahnstück Röszke–Horgoš, August 2015 (Gémes Sándor/SzomSzed; Lizenz: CC BY-SA 3.0)
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