Die kurdische Selbstverwaltung in Kobane (Rojava)
Hintergrund: Das Gesellschaftsmodell des „Demokratischen Konföderalismus“
Aufgrund ihres heroischen Widerstandes gegen die Mörderbanden des IS sind die unter kurdischer Selbstverwaltung stehende Stadt Kobane wie die Region Rojava heute in aller Munde und zu einem Symbol des Selbstbestimmungskampfes der Kurden geworden. Und doch bleiben die tiefgreifenden Umwälzungen wie mögliche Vorbild-Bedeutung Rojavas für die Gesamt-Region vielfach ausgeblendet.
Rojava (kurdisch: „Westen“)
Die Region Rojava (Nordsyrien/Westkurdistan) steht als de facto autonome Region seit Juli 2012 unter kurdischer Selbstverwaltung. Die von 2,5 Mio. Menschen bewohnte Region, zusätzlich der noch über 1 Million sich vor dem IS in sie fliehenden Flüchtlingen, setzt sich aus drei Kantonen zusammen (neben Kobane noch Efrin und Cizire) und weist eine ausgeprägte kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt auf, die sich auch im begründeten Gesellschaftsmodell und den Verwaltungen abbildet. Hier leben Kurden, Araber, Turkmenen, Armenier friedlich zusammen. Aramäer/Assyrer, Chaldäer, Jesiden und Moslems praktizieren ohne Diskriminierungen ihren Glauben. Die Verwaltungen bestehen jeweils aus einem kurdischen, arabischen und christlich-assyrischen Minister pro Ressort. Vor rund einem Jahr, im Jänner 2014, wurde ein „Gesellschaftsvertrag für Rojava“ verabschiedet, der unter anderem die freie Bildung in der Muttersprache, die Religions-, Presse- und Meinungsfreiheit, die Beseitigung der Frauendiskriminierung, die Beseitigung der Kinderarbeit, das Recht die ethnische, sprachliche, geschlechtliche, religiöse und kulturelle Identität zu leben, eine Gesundheitsversorgung, Wohnraum, die Verfügung über alle Bodenschätze und natürlichen Ressourcen sowie des Bodens durch die Gesamtgesellschaft und eine direkte kommunale Demokratie mit rätecharakterlichem Aufbau festschreibt.
Das politische System Rojavas
Seiner politischen Verfasstheit nach zeichnet sich Rojava allem voran durch sein Gesellschaftsmodell des sogenannten „Demokratischen Konföderalismus“ aus. Eine Art einer dezentralisierten, kantonal von unten nach oben verlaufenden rätesystemlicher politischen Selbstverwaltung – mit stark ausgeprägten basisdemokratischen Strukturen in breiter Einbeziehung aller ethnischen und religiösen Minderheiten sowie einer verankerten Frauenquote von mindestens 40% . Der „Demokratische Konföderalismus“ versteht sich in diesem Zusammenhang sowohl als unmittelbare Alternative zu herkömmlichen staatsbezogenen politischen Ansätzen, wie auch als Alternative zu einer nationalstaatsbasierten Selbstbestimmung. Er beabsichtigt demgegenüber eine Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch die Ausweitung der Demokratie in allen kurdischen Regionen, ohne die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen infrage zu stellen. Dergestalt zielt er vielmehr auf die Etablierung ähnlich gearteter föderale Strukturen in allen weiteren Kurdengebieten der Türkei, des Iraks und im Iran und einer gleichzeitigen Bildung einer übergreifenden Konföderation aller vier kurdischen Regionen ab.
Die Befreiung der Frau
Ein zweiter, der breiten Öffentlichkeit viel zu wenig bekannter zentraler Pfeiler des Gesellschaftsmodells Rojavas liegt im Aufbrechen der patriarchatsdominierten Clanstrukturen in der Region und der gleichberechtigten Beteiligung der Frauen in allen politischen und sozialen Organen. Artikel 27 des „Gesellschaftsvertrags“ schreibt unmißverständlich fest: „Frauen verfügen über alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte … Diese Rechte sind zu schützen“. Ja, mehr noch, wie Artikel 28 verbrieft: “Frauen haben das Recht zur Selbstverteidigung und das Recht, jegliche Geschlechtsdiskriminierung aufzuheben und sich ihr zu widersetzen“. Ein Emanzipationsentwurf, der in Rojava auch mit Leben erfüllt ist und sich in mannigfachsten Formen ausdrückt. Seinen sichtbarsten Ausdrucke findet dieser Emanzipationsprozess sicherlich in der angestrebten 40%igen Frauenquote in den Verwaltungen, wie der Quotierung der Beschlüsse der Kommunen, deren Entscheidungsfähigkeit nur dann gegeben ist, wenn an den Erörterungen und Diskussionen mindestens 40% Frauen beteiligt sind. Ein nicht minder sichtbarer Ausdruck findet sich natürlich zugleich im gleichberechtigten Verteidigungskampf der vom IS auch aus religiösen Vorstellungen und patriarchalischem Weltbild besonders gefürchteten, heroischen Kämpferinnen der YPJ (Frauenselbstverteidigungseinheiten). Die sich in Rojava vollziehenden Überwindungsanstrengungen der Frauendiskriminierung reichen als Bestandteil des täglichen Lebens aber noch viel weiter, bis hin zu einer permanenten Befassung der Kommunen und ihrer Kommissionen mit patriarchaler Gewalt, Familienstreits…
Die alternative Vorbild-Bedeutung für die Gesamtregion
Freilich zeichnet sich das Modell Rojava, wie eingangs zumindest angedeutet, noch durch eine Reihe weiterer Pfeiler aus, die im vorliegenden Rahmen jedoch nur mehr stichwortartig angetippt werden können. Das Gesellschaftsmodell des „Demokratischen Konföderalismus“ beinhaltet im Rahmen seiner Selbstverwaltung zugleich ein alternatives Wirtschaftssystem, in dem etwa die „Bodenschätze und natürlichen Ressourcen“ (Artikel 39) sowie der „Grundbesitz und Boden“ (Artikel 40) der Gesamtgesellschaft gehören und deren Nutzung, Gebrauch und Aufteilung sich durch entsprechende, dahingehende Gesetzt regelt (ebd.) – basierend auf „den Prinzipien“ einer „ökologischen Gesellschaft“, als die Rojava in Artikel 23 als weiterem Pfeiler nachdrücklich konstituiert ist. Die Durchsetzung sozialer Errungenschaften geht neben dieser alternativen und ökologischen Komponente zugleich Hand in Hand mit einer Durchsetzung allgemein humanistischer Prinzipien. Artikel 26 etwa „verbietet die Todesstrafe“, Artikel 25 die „Folter“. Artikel 29 wiederum „garantiert die Kinderrechte und verbietet Kinderarbeit, physische und psychische Folter an Kindern und Kinderheiraten“… Gar vieles wäre noch anzuführen. Aber auch so sollte sich die mögliche Vorbild-Bedeutung Rojavas für die Gesamtregion abgezeichnet haben. Ein Modell an dem es sich zumindest in vielerlei Hinsicht zu inspirieren lohnt.
Dieser Artikel erscheint in der nächsten Ausgabe von KOMpass, Zeitung der Kommunistischen Gewerkschaftsinitiative – International (KOMintern) als Beilage in der Straßenzeitung UHUDLA
Fotos: Lower Class Magazine (“Rojava ist eine wirkliche Chance”) /Karte von Rojava (PANONIAN/Wikimedia Commons, CC 0)